Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Hüter der Geschichte:Das Gedächtnis von Vaterstetten

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Georg Reitsberger ist nicht nur Ex-Bürgermeister und Seniorchef eines großen Hofs, sondern auch Ortschronist.

Von Michaela Pelz

Das Interesse und Engagement von Georg Reitsberger, Vaterstettener Ex-Bürgermeister, ist vielfältig.

Es reicht vom Schicksal der Zwangsarbeiter (Dokumentation im Eisenbahnwaggon)...

...bis hin zu einer historischen Kegelbahn.

Am Anfang stand die Oma Anna. Denn ohne die 1889 geborene Ahnin hätte es weder den Reitsberger Hof in Vaterstetten gegeben, der heuer sein 110-jähriges Bestehen feiert, noch den Reitsberger Schorsch selbst, und wohl auch nicht dessen Leidenschaft für die Geschichte des Ortes, in dem er seit seiner Geburt 1952 lebt. Warum die damit verbundenen Umstände schon die Weitsicht der Gemeinde erahnen lassen, erfährt man bei einem Gespräch mit dem Altbürgermeister Georg Reitsberger in der Landlust."Es hängt halt alles mit allem zusammen", lacht der stattliche Mann im blütenweißen Hemd, dessen herzlich zugewandte Ausstrahlung ebenso einnehmend ist wie sein Erzähltalent. Weswegen man auch gebannt Reitsbergers Ausführungen lauscht, wie die gerade mal 21-jährige Anna 1910 nach dem Tod ihrer Mutter als Waise mit fünf kleinen Geschwistern dastand, und schnell ein Mann gefunden werden musste, der sich um die elternlose Familie sowie den sechs Monate zuvor im damaligen "Zornedinger Weg", der heutigen Carl-Orff-Straße, gekauften Hof kümmern würde.

Kein ganz leichtes Unterfangen, brauchte man doch für das Wohnrecht in Vaterstetten einen "Heimatschein". Quasi als Form der sozialen Absicherung garantierte dieser den Inhabern, bei plötzlicher Verarmung jede Woche von einem anderen Hof mit Essen versorgt zu werden, weswegen die Vergabe alles andere als beliebig war. Doch zum Glück verfügte der Reitsberger Balthasar aus Salmdorf bei Haar über einen guten Leumund: Nachts half er auf dem Hof seiner älteren Schwester beim Melken, brachte dann die Milch nach München. Auf dem Rückweg sammelte er Mist aus den Gruben der Tierhalter auf, um damit daheim die steinigen Kartoffeläcker zu düngen. Spätestens um sechs Uhr früh, vor Beginn des Alltagslebens in der Stadt, musste er wieder raus sein. Das alles sprach für den Bauernsohn und Zimmerer, deswegen durfte er nach Vaterstetten einheiraten und die dortige Dynastie begründen. Geschätzt von den Mitbürgern wurde er schnell Ortsobmann, Feuerwehrkommandant und Kirchenpfleger. Ein Amt, das auch der Großvater mütterlicherseits ausübte, ein 1919 aus dem Rheinland nach Baldham zugewanderter Landwirt, der gezielt einen Hof neben einer Kirche suchte.

Sei es nun dieser starken christlichen Prägung, dem bäuerlichen Umfeld oder einfach der Zeit geschuldet: In jeder Generation gab es sehr viele Kinder. Diese zahlreichen Vettern und Cousinen hatten viel zu erzählen - und der kleine Schorsch lauschte aufmerksam. "Wenn ich mit der Oma unterwegs war, mussten wir immer bei der Verwandtschaft vorbei", erzählt er und lacht: "Dabei hat sie im ersten halben Jahr nicht einmal ins Wagerl hineing'schaut, weil sie beleidigt war, dass man mich nicht mit erstem Vornamen "Hausl", also Balthasar, genannt hatte, wie meinen Vater, Großvater, Urgroßvater und dessen Vater vor ihm."

Manches, was heute seltsam anmuten mag, war ein Ausdruck von Tradition, etwa das Schlachtfest, bei dem der jeweilige Ausrichter nicht nur Suppe im Dorf verteilte, sondern auch Familien- und Hofgeschichten ausgetauscht wurden. Von denen machte sich der junge Georg zuweilen Notizen, bewahrte sie aber vor allem in seinem Gedächtnis. Schon als er 1979 als Landwirtschaftsmeister den elterlichen Hof übernahm, welchen er mit der Zeit von neun auf 38 Kühe vergrößerte, zu denen infolge der Ehe mit seiner Frau, der "ersten weiblichen Kraft bei der berittenen Polizei", etliche Pferde hinzukamen. Doch sein Interesse am "Alltag, wie er früher war, an kirchlichem Brauchtum, Wetterkunde, Familiengeschichte, Siedlungsentwicklung und Landwirtschaft" blieb auch erhalten, als er 1993 in die neue Hofstelle am Ortsrand umzog, weil die alte zu klein geworden war. Schon früh hatte sich der Reitsberger Hof als Treffpunkt etabliert, "in den Zwanzigern kam die Dorfjugend zum Kirtahutschn". In der Maschinenhalle - der selbst abgebauten Ex-Kirche von Neukeferloh - fanden Veranstaltungen, Maibaumwachen und der erste Woll- und Leinenmarkt statt. Es gab Führungen für Kindergärten und einen Lebensmittelverkauf. "In manchen Jahren haben die Leute bis zu 60 000 Liter Milch nach Hause getragen, später kamen Kartoffeln hinzu." All das und noch mehr wurde im neuen offenen Vierseithof am jetzigen Standort fortgeführt, in dem mehr als zehn Jahre lang auch der Voltigier-Verein Ingelsberg beheimatet war, bevor der dreimalige Weltmeister in ein eigenes Leistungszentrum umzog. Zum kleinen Reiterstüberl kam dank der Schwägerin, "einer sehr guten Köchin", erst ein Biergarten hinzu, bevor am Vatertag 1995 das Wirtshaus "Landlust" eröffnet wurde.

Auch Bombensplitter sind Teil von Georg Reitsbergers Sammlung als Ortschronist.

Diese Gedenktafel für einen im Zweiten Weltkrieg abgestürzten Flieger bescherte Reitsberger 2014 eine Einladung nach Dallas.

Parallel zu Reitsbergers Erlebnisbauernhof wuchs auch das Privatarchiv des "leidenschaftlichen Zeitungslesers" auf einen Kellerraum voller Ordner an, mit einem Fach für die Gemeinde, einem für den Landkreis und einem für das Brauchtum in der Gemeinde. Doch hat der Vaterstettener nicht nur Artikel gesammelt, eigene verfasst sowie bei den meisten ortsbezogenen Veröffentlichungen einen Beitrag geleistet, sondern sich etwa während seiner Amtszeit als Bürgermeister, 2013 bis 2020, auch ganz konkret für Projekte wie etwa den Erhalt der Traditionsgaststätte "Alte Post" in Parsdorf eingesetzt, als diese fast an einen Investor verkauft worden wäre. Dabei gilt die erstmals 1443 erwähnte Station an der Strecke Wien-München doch als Keimzelle der Gemeinde. All diese Daten und Fakten hat der eloquente Endsechziger ebenso parat wie Anekdoten rund um die aktuelle Klimasituation - "früher saßen wir Kinder bei Blitz und Donner betend mit der Oma im Austragshäusl, vor uns die schwarze Wetterkerze aus Altötting" - oder die örtlichen Brennereien. Einen höchst persönlichen Bezug hat er dazu, verfügte doch die Genossenschaft schon 1952 über ein Auto, das jedes der 31 Mitglieder bei Bedarf benutzen durfte. "So wurde meine schwangere Mutter von meinem werdenden Taufpaten mit einem modernen englischen Auto, Marke Standard, zur Entbindung in die Maistraße kutschiert, also quasi dem ersten Baldhamer Autoteiler." Mit solchen Anekdoten, aber auch mit Ausstellungsstücken will Reitsberger die Ortsgeschichte bewahren. Zum Beispiel hat er eine Kegelbahn von 1907 auf seinen Hof versetzt, angeschafft vom damaligen Königlich Bayerischen Hofkellermeister für seine Jagdgäste.

"Jedes Jahrzehnt hat seine Spuren hinterlassen, das zu dokumentieren ist die Aufgabe, die ich mir gestellt habe." Sagt der Chronist. Darum gehört zu seinem Verständnis von Heimatkunde auch die Realität rund um den Zweiten Weltkrieg. Dass der Ort nicht verschont blieb, dokumentieren Bruchstücke von Bomben, "was man bei uns halt so auf dem Acker findet", oder die Geschichte von jenem Sprengkörper, der mitten im Dorf auf einem Misthaufen detonierte, worauf sich die Fenster der benachbarten Bäckerei alle schlagartig verdunkelten. "Wichtig jedoch, es wurde kein einziges Gebäude beschädigt!". Aber vor allem auch eine Gedenktafel, "das erste Denkmal für gefallene US-Soldaten auf deutschem Boden", für die toten Besatzungsmitglieder eines 1944 über dem Gebiet abgeschossenen Flugzeugs. Diese Tafel bescherte Reitsberger 2014 sogar die Einladung zu einem Veteranentreffen nach Dallas.

Wahrlich schade sei es, beklagt Reitsberger am Ende, dass es immer weniger echte Zeitzeugen gebe. Da möchte man es fast als Segen betrachten, dass er selbst in die Fußstapfen seiner Oma Anna getreten ist und den fünf Enkelkindern fleißig von früher erzählt. Vielleicht wird es ihm ja irgendwann eines von ihnen gleichtun? Einen Buben mit Zweitnamen Balthasar gibt es immerhin bereits.

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Quelle:
SZ vom 13.11.2021
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