Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 10:Letzte Lösung: Fixieren

Lesezeit: 2 min

Julia Rettenberger berichtet über sich selbst gefährdende Patienten - und warum es manchmal nur noch einen Weg gibt.

Protokoll: Johanna Feckl

Hallo! Hilfe! Wo bin ich? Wieso hilft mir keiner?" Als ich zur Patientin ins Zimmer hinein bin, saß sie auf ihrem Bett, hat ihr frisch operiertes Bein, das eigentlich absolut still und gerade liegen musste, über das Gitter am Bett gehängt und war dabei, sich den Verband abzuwickeln - sie hat eine Hüftprothese bekommen. Die Frau war verängstigt und verwirrt. Und sie gefährdete sich selbst: So, wie sie tobte, bestand das Risiko, dass die Prothese wieder herausspringt. In solch einem Moment lautet die oberste Devise: Die Patientin vor sich selber schützen. Also: Medikamente zur Beruhigung und Fixierung der Hände. Das hört sich für Außenstehende schlimm an, es ist schließlich eine Form der Freiheitsberaubung. Aber die Gefahr, dass sich die Patientin selbst verletzt, war so groß, dass diese präventive Maßnahme Vorrang haben musste.

Ein bisschen durch den Wind sind Patientinnen und Patienten nach einer OP immer. Aber in gut der Hälfte der Fälle geraten sie in Zustände wie die Frau und sind nicht mehr Herr ihrer Sinne. Das nennt sich postoperatives Delir und ist allgegenwärtig bei uns. Risikofaktoren sind etwa ein höheres Alter, Demenz oder eine reiche Palette von Medikamenten, die die Betroffenen ohnehin schon einnehmen müssen. Ein Delir tritt in verschiedenen Formen auf: Hypo-Betroffene sind in sich gekehrt und wirken abwesend, in der hyper-Variante drehen sie durch. Außerdem gibt es Mischformen, wie bei der Frau mit der neuen Hüfte. Die Fixierung ist nie unser erstes Mittel, so auch in diesem Fall nicht.

Als die Frau zuvor einige Male aufwachgewacht ist und verwirrt war, bin ich jedes Mal zu ihr und habe erklärt: "Frau Mustermann, heute ist Dienstag, der so-und-so-vielte um so-und-so-viel Uhr, Sie wurden operiert und haben eine neue Hüfte bekommen, alles ist gut verlaufen, Sie sind jetzt auf der Intensivstation." Solche Hilfen zur Re-Orientierung sind wichtig. Zunächst ließ sie sich beruhigen, einigermaßen zumindest. Aber nun hatten wir keine andere Wahl, um sie vor sich selbst zu schützen.

Die Fixierung muss ein Arzt anordnen, sie darf nicht länger als 24 Stunden andauern und das Amtsgericht muss zuvor zustimmen - ansonsten würden wir mit einer Fixierung Freiheitsberaubung und damit eine Straftat begehen. Das Prozedere mit dem Amtsgericht geht per Eilantrag, in dem wir ganz genau angeben müssen, welche Körperpartien wir fixieren möchten: Hände und Fäustlinge, Beine, Hüftgurt, es gibt auch eine Fixierung für den Kopf, so etwas haben wir aber nicht in der Klinik.

Unsere Patientin mussten wir über die Nacht hinweg mit zwei Gurten an den Händen und hochgestelltem Bettgitter fixieren, durch die Beruhigungsmittel hat sie durchgeschlafen. Am nächsten Morgen war sie wie ein anderer Mensch, an ihr Verhalten vom Vortag konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Julia Rettenberger ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 27-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station.

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Quelle:
SZ vom 12.07.2021
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