Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 142:Wenn plötzlich Porzellanstücke vom Teller fehlen

Lesezeit: 2 min

Pola Gülberg erzählt von einer Patientin, die nach dem Essen im Krankenhaus vor einem zerbrochenen Teller sitzt - und es fehlen Stücke von ihm. Hat die Frau sie etwa gegessen?

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Es ist schon eine ganze Weile her, als eine Patientin nach einem endoskopischen Eingriff zur Überwachung bei uns auf der Intensiv war: Mithilfe von einem dünnen Schlauch, der über den Mund weiter in die Speiseröhre hinab in den Magen eingeführt wurde, ist ihr ein noch unverdauter Klumpen entnommen worden, der da nicht hingehörte. Weil sie weiterhin stabil war, konnte sie schon bald auf Normalstation verlegt werden. Da passierte es dann: Als die Kollegen nach dem Essen in ihr Zimmer kamen, fanden sie den Teller in Stücke zerbrochen auf dem Tablett, und es war offensichtlich: Es fehlte etwas von dem Porzellan, die Frau hatte es gegessen.

Eigentlich isst man ja vom Teller, nicht den Teller selbst. Klingt ganz schön kurios, oder? Dem kann aber eine anerkannte Krankheit zugrunde liegen, die häufiger vorkommt, als so mancher denkt: das Pica-Syndrom - eine Essstörung. Anders als bei einer Magersucht geht es bei Pica aber nicht um die Menge der Nahrung, die gegessen wird, sondern um die Art der Nahrung. Denn Betroffene essen Dinge, die keine Lebensmittel sind. Häufig sind das Haare, das kennt man vielleicht von kleinen Kindern. Aber auch bei Schwangeren bricht gerne ein plötzlicher Drang auf, Erde oder andere pulvrige Substanzen zu sich zu nehmen.

In den meisten Fällen ist die Ursache eine psychisch bedingte. Zum Beispiel bei Schizophrenie, wenn Betroffene Stimmen hören, die ihnen sagen, sie sollen dieses oder jenes essen. Davon abgesehen steht Pica häufig mit einer sehr starken intellektuellen Behinderung im Zusammenhang, es tritt aber auch bei einer Autismus-Spektrums-Störung auf.

Oft dauert es, bis die Krankheit diagnostiziert werden kann. Bei sehr geringen Mengen von Haaren oder Erde passiert meistens nicht viel, außer dass sie möglicherweise zu Verstopfungen führen. Wird es jedoch immer mehr, treten irgendwann Bauchschmerzen auf. Das kann bis zu einem Darmverschluss führen: Normale Nahrung wird dann erbrochen, weil sie schlicht keinen Platz mehr im Magen hat - Haare und Co. können nicht verdaut werden, es sammelt sich also ein Klumpen im Magen, der ihn verstopft.

In dem Fall von unserer Patientin jedoch war die Lage außergewöhnlicher. Denn bei ihr war selbst die kleinste Menge gefährlich - Porzellan ist schließlich scharfkantig und kann zu inneren Verletzungen führen. Außerdem kann es sein, dass das Porzellan in Verbindung mit Magensäure Giftstoffe abgibt.

Nach einem weiteren endoskopischen Eingriff kam die Frau also wieder zur Überwachung zu uns - nach dem ersten war für die Ärzte noch nicht ersichtlich gewesen, dass sie an einer solch ausgeprägten Form von Pica erkrankt sein könnte. Nun aber war klar, dass die Frau zur weiteren Abklärung in eine psychiatrische Einrichtung überwiesen werden sollte.

Wie es mit ihr nach dem Aufenthalt bei uns weiterging, weiß ich leider nicht. Ich hoffe sehr, dass sie in der Psychiatrie die Hilfe bekam, die sie brauchte, um wieder gesund zu werden.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.6349604
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.