Süddeutsche Zeitung

Ukrainische Geflüchtete:"Wir haben einen heißen Herbst vor uns"

Lesezeit: 5 min

Seit 1. Juni ist das Ebersberger Jobcenter auch für 1415 Geflüchtete aus der Ukraine zuständig - und somit für 65 Prozent mehr Menschen als vorher. Geschäftsführer Benedikt Hoigt über tragische Einzelschicksale, arbeitsreiche Wochenenden, massenhaft Papierkram - und die Aussicht auf viel weiteren Stress.

Interview von Sina-Maria Schweikle, Ebersberg

Vor dem 1. Juni betreute das Jobcenter Ebersberg etwa 2200 Menschen. Seit diesem Datum sind es 1415 mehr - Ukrainerinnen und Ukrainer, die allein oder gemeinsam mit ihren Familien im Landkreis vor dem Krieg Schutz gesucht haben. Durch den sogenannten Rechtskreiswechsel ist das Jobcenter nun auch für sie zuständig - eine große Aufgabe für Geschäftsführer Benedikt Hoigt und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er berichtet im Interview, vor welchen Herausforderungen er und sein Team standen, was nun auf die Geflüchteten und das Jobcenter zukommt und warum ohne Hilfe aus der Bevölkerung vieles anders gelaufen wäre.

SZ: Das Jobcenter ist seit dem 1. Juni für die Geflüchteten zuständig. Wie war die Situation davor und wie nehmen Sie die Verhältnisse jetzt wahr?

Benedikt Hoigt: Bis zu diesem Tag hatten wir keine Berührungspunkte. Damals waren das "Team Asyl" im Landratsamt und die Agentur für Arbeit im Landkreis gefordert. Der Beschluss der Bundesregierung, dass die Jobcenter künftig für die Betreuung zuständig sein sollten, kam erst am 27. Mai und damit sehr spät. Ziel war dabei, die Vermittlung auf den Arbeitsmarkt, die Integration und die Leistungsgewährung aus einer Hand zu haben.

Vor was für Herausforderungen stand das Jobcenter damit?

Es war eine Masse an Papieren, die zu bewältigen war. Die Geflüchteten hatten ja erst mal den Antrag auf Asylbewerberleistungen gestellt. Wir mussten den Menschen dann erklären, dass sie jetzt leider bei uns nochmals einen anderen Antrag stellen mussten, das war die rechtliche Vorgabe. Auch eine Krankenkasse mussten die Menschen erst einmal aussuchen. Und wir zahlen unsere Leistungen nicht bar aus, das heißt, wir haben auch eine Bankverbindung gebraucht.

Das klingt nach viel Arbeit - wie haben Sie das gestemmt?

Das haben wir mit dem großen Engagement von unseren Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeitenden gut hinbekommen. Sie haben freiwillige Mehrarbeit inklusive Wochenenden geleistet. Aber auch im Einklang mit den gastgebenden Familien, mit den Flüchtlingshelfern und mit den Ehrenamtlichen, die uns da ganz toll unterstützt haben. Ohne die Hilfsbereitschaft wäre das alles gar nicht leistbar gewesen - das muss man ganz klar sagen. Damit konnten wir bis zum 1. Juni etwa 80 bis 85 Prozent der Menschen bei uns anbinden, und die Zahlungen sind weitestgehend pünktlich rausgegangen. Unser größtes Anliegen war, dass wir möglichst zügig die Anmeldungen zur Krankenkasse erstellen können, damit die Menschen Krankenversicherungsschutz haben.

Warum war genau das Ihr größtes Anliegen?

Unter den Geflüchteten gab es einige schlimme Einzelschicksale. Beispielsweise gab es Fälle, in denen Personen auf eine Chemotherapie angewiesen waren. Eine junge Frau ist hochschwanger eingereist und hatte einen Kaiserschnitt geplant. In diesen Fällen muss man sicherstellen, dass die Krankenversicherung funktioniert.

Gab es ein Schicksal oder eine Situation, die Sie in den vergangenen Monaten besonders berührt hat?

Mit den Fällen habe ich nur indirekt zu tun. Grundsätzlich hat mich die gesamte Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung berührt. Und die Gespräche mit den Gastgebern, die einfach sehr viel getan haben.

Krieg und Flucht können traumatisierend sein. Bietet das Jobcenter dazu Hilfe an?

Ich bin sicher, dass die Themen Traumatisierungen und Fluchterlebnisse in den nächsten Monaten bei uns aufkommen werden. Und da ist gut, dass wir ein funktionierendes Netzwerk haben, mit dem wir uns austauschen und den Menschen Unterstützung anbieten können. Damit wir den Geflüchteten bestmöglich in ihrer Situation helfen können, sind wir beispielsweise mit den sozialpsychiatrischen Diensten im Austausch.

Jetzt haben wir viel über die Hilfsbereitschaft im Landkreis gehört - aber vor welchen Problemen steht das Jobcenter?

Ein großes Thema ist die Sprachbarriere. Nur relativ wenige Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, sprechen Deutsch oder Englisch. Wir behelfen uns mit einer Dolmetscher-Hotline und mit Übersetzungsgeräten. Das klappt gut. Im Mai und im Juni hatten wir noch Übersetzer vor Ort. Sie haben aber ehrenamtlich geholfen und mussten sich wieder auf ihre Hauptarbeit konzentrieren.

Zwischenzeitlich gab es Stimmen, die gesagt haben, dass das Jobcenter womöglich überfordert sei und dass Fristen nicht eingehalten werden. Was sagen Sie dazu?

Grundsätzlich glaube ich, dass man das aufgrund der Masse an Menschen relativieren muss. Wir bemühen uns nach bestem Wissen und Gewissen, die Themen schnell und zeitnah zu klären. Beispielsweise bei Mietverträgen - da geht es häufig um Geschwindigkeit.

Was sollen denjenigen Helfer machen, die momentan nicht zufrieden sind mit der Arbeit des Jobcenters?

Wenn man merkt, es funktioniert etwas nicht, bitte nochmal per E-Mail oder über die Hotline nachfragen. Sie müssen sich vorstellen, dass wir innerhalb von acht bis zehn Wochen fast 70 Prozent mehr Kundschaft hatten. Dies musste ohne zusätzliches Personal gestemmt werden.

Es gab eine Helferin, die berichtet hat, dass das Jobcenter telefonisch schwer erreichbar war und auf ihre E-Mails nicht reagiert wurde. Möchten Sie dazu etwas sagen?

Wenn es im Einzelfall mal nicht läuft, dann muss ich mich dafür im Vorfeld entschuldigen. Da bitte ich die Betroffenen, sich direkt an das Jobcenter und in dem Fall auch an mich zu wenden.

Wie war die Situation denn für Ihre Mitarbeiter?

Das hohe Engagement der Mitarbeitenden ist der Schlüssel gewesen, um den Menschen umgehend helfen zu können. Sie haben angeordnete Überstunden gemacht, aber es war alles auf freiwilliger Ebene. Die Kolleginnen und Kollegen haben an Samstagen gearbeitet. Der Arbeitseinsatz und die Motivation sind nach wie vor ungebrochen.

Wie wurden den Menschen denn bis jetzt geholfen und was ist der nächste Schritt?

Im ersten Schritt haben wir die Menschen mit der Grundsicherung versorgt. Nachdem wir die Leistungen ausgezahlt und die Krankenversicherungen hergestellt haben, folgt der nächste Schritt: dass unsere Vermittlermannschaft die Ukrainerinnen und Ukrainer kennenlernt und schaut, was jetzt das Hauptthema ist. Ist es der Integrationssprachkurs? Die Vermittlung in die Arbeit? Gibt es ein Arbeitseinkommen aus der Ukraine, wenn man einen Job hat, den man über das Internet tätigen kann? Da gibt es ganz viele Themen.

Wenn Sie auf die vergangenen zwei Monate zurückblicken - was hätte das Jobcenter besser machen können?

Das Einzige, das wir ein Stück weit anders steuern hätten müssen, wäre die Antragsabgabe gewesen. Wir haben am Anfang darauf gehofft, dass die Menschen eigenaktiv unterwegs sind. Da war uns die Komplexität der Sprachbarriere nicht bewusst. Damit mussten wir sehr viel Hilfe und sehr viel Zeit investieren, um den Menschen dieses komplexe Gesetz einfach zu erklären und näherzubringen. Heute würde ich mehr auf Einzeltermine setzen, aber das war damals einfach eine Entscheidung aus dem Bauch raus.

Werden die Anträge der Geflüchteten anders behandelt als die regulären Anträge?

Es ist natürlich ein Spannungsfeld. Es war mir und unserer gesamten Mitarbeiterschaft immer wichtig, dass es zu keiner Ungleichbehandlung kommt. Das ist auch nicht erfolgt. Wir haben diesen Spagat zwischen dem normalen Business, sprich den Kunden, die schon da waren, und unsere Neukunden gut hinbekommen. Jetzt müssen wir schauen, wie wir diese vielen Neukunden in das normale Geschäfte etablieren.

Wie geht das Jobcenter mit dem erhöhten Arbeitsaufkommen um?

Wir haben drei Stellen geschaffen, die zum 1. Oktober vermutlich besetzt werden können. Das heißt, wir haben künftig auch mehr Unterstützung im Haus.

Und wie geht es nun weiter für das Jobcenter und die Geflüchteten?

Der Gesetzgeber hat für uns eine etwas ungünstige Situation geschaffen. Wir durften den ersten Antrag, der für den 1. Juni gestellt worden ist, nur für maximal sechs Monate bewilligen. Das heißt, es kommen jetzt in den nächsten Wochen auch schon die ersten Anschreiben an die ukrainischen Familien und Geflüchteten, dass der Weiterbewilligungsantrag zu stellen ist. Den können wir dann auf ein Jahr ausdehnen. Bei etwa 120 Bedarfsgemeinschaften laufen die Bewilligungen am 31. Oktober aus. Diese erhalten in der Regel sechs Wochen vorher ein Anschreiben, den Weiterbewilligungsantrag zu stellen. Der Rest endet zum 30. November. Der Arbeitsaufwand ist für uns wieder genauso hoch wie vorher. Wir haben einen heißen Herbst vor uns.

Gibt es bei diesen Aussichten etwas, das Sie den Helfern gerne ans Herz legen möchten?

Ich würde darum bitten, die Weiterbewilligungsanträge schnell auszufüllen und zügig an uns zu übersenden . Wer Unterstützung braucht, sollte sich bei uns kurz über E-Mail melden. Die Message ist: Bitte warten Sie nicht bis zum letzten Tag. Die Anschreiben kommen sechs Wochen vorher, damit wir genug Zeit haben, die nahtlose Weiterzahlung zu gewährleisten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5643634
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.