Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr danach:So geht es den Überlebenden des Attentats von Grafing-Bahnhof

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An diesem Mittwoch jährt sich das Messer-Attentat vom 10. Mai 2016, bei dem ein psychisch Kranker einen Mensch tötete. Drei Grafinger haben mit schweren Verletzungen überlebt.

Von Korbinian Eisenberger, Grafing

Bernhard R.* zieht sein Bein nach, seit er am Morgen des 10. Mai 2016 in Grafing-Bahnhof in eine S-Bahn steigen wollte. Es war ein ganz normaler Dienstag, fünf Uhr früh, draußen war es noch finster, wie sonst auch, wenn er zur Arbeit fuhr. Nur dass diesmal ein Mann auf ihn zukam, und ihm ein Messer in den Rücken rammte. R. wurde notoperiert, er kam gerade so mit dem Leben davon, für den damals 58-Jährigen ging aber auch vieles verloren.

Ein Jahr ist vergangen, seit es in Grafing-Bahnhof zu einem Attentat kam, bei dem ein junger Mann wild um sich stach und vier Menschen schwer verletzte, ein 56-Jähriger Wasserburger verstarb an seinen Verletzungen im Krankenhaus. Der Schock saß tief, am Tag nach der Schreckenstat hielten sie in Grafing einen emotionalen Gedenkgottesdienst für die Opfer, in der St.-Ägidius-Kirche flossen Tränen. Und trotzdem nahmen sie in den Fürbitten auch den Verursacher ins Gebet, einen damals 27-jährigen Mann aus Hessen.

Warum? Diese Frage beschäftigte in den Tagen danach Medien in ganz Deutschland - Antworten gab es bisher aber keine. Juristisch ist der Fall längst nicht aufgearbeitet, das Landgericht München II hat noch keinen Termin für den Prozess bestimmt. Der mutmaßliche Täter gilt als schuldunfähig, das Oberlandesgericht ist davon überzeugt, dass er psychisch krank ist. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb keine Anklage erhoben, sondern eine Antragsschrift verfasst, wie Oberstaatsanwalt Ken Heidenreich erläutert. Der Mann soll somit im Zuge eines Sicherungsverfahrens dauerhaft in die geschlossene Abteilung einer Nervenklinik eingewiesen werden.

Weniger bekannt ist, wie es den drei Männern aus Grafing geht, die damals schwer verletzt überlebten. Anruf bei Peter Augustin von der Opferbetreuung Weißer Ring in Ebersberg, er kennt die drei Grafinger seit einem knappen Jahr: "Es ist schwer, so ein Erlebnis aus dem Kopf zu bekommen", sagt der 70-Jährige, daran änderten auch die je 5000 Euro Schmerzensgeld von der Opferhilfe Bayern wenig.

Er kann nicht mehr S-Bahn fahren

Ein Opfer ist Heinz S., damals 55, seine Stichwunde ist mittlerweile verheilt. "Es fällt ihm aber schwer, über das Geschehene zu sprechen", sagt Augustin, so wie den meisten Opfern. Dazu zählt auch Martin L., heute 56, ihn hatte der Täter in die Brust gestochen, die Wunde ist zwar verheilt und vernarbt, in seinem Beruf hat er die Wiedereingliederung geschafft. "Er kann aber nicht mehr S-Bahn fahren", sagt Augustin.

Öffentlich darüber sprechen will auch L. nicht, zu viele Anfragen von Reportern in diesen Tagen vor jenem Datum, an dem sich eines der schlimmsten Ereignisse in der jüngeren Geschichte der Stadt jährt. Von den äußeren Verletzungen hat es Bernhard R. am schlimmsten getroffen, den Gärtner, der seit dem Angriff eine Halbseitenlähmung hat. "Er musste die Arbeit aufgeben", sagt Augustin. Emotional sei R. "erstaunlich stabil", weil Gehen schwierig geworden ist, habe er sich ein E-Bike gekauft.

Wie geht es den Opfern? Wie verkraften sie das Erlebte? Diese Fragen geratenschnell in den Hintergrund, gerade wenn die Öffentlichkeit noch mit dem Täter beschäftigt ist. Ein Grund, warum vor 40 Jahren die Ehrenamtlichen-Organistaion Weißer Ring gegründet wurde, der sich inzwischen zur bundesweit größten Opfer-Hilfsstelle entwickelt hat. "Vor 15 Jahren haben wir im Jahr zehn Opfer betreut", sagt Augustin, mittlerweile seien es um die hundert. "Die Behörden befassen sich mit den Tätern, nicht aber mit den Opfern", sagt er.

Als Cassandra das Kiosk aufsperrte

Opfer fallen in keine offizielle Zuständigkeit, die Stadt München hat deshalb nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum mit neun Toten und vier Verletzten einen Spendenaufruf gestartet. Nach der Messerattacke in Grafing-Bahnhof gab es so etwas dagegen nicht, wie Grafings Oberbürgermeisterin Angelika Obermayr (Grüne) am Dienstag bestätigte. Für sie ist der Jahrestag "ein Anlass, dies zu ändern", teilte sie mit. Die Stadt nehme Spenden für die Opfer von vor einem Jahr gerne entgegen, so Obermayr. Sie selbst hat dem Weißen Ring Ebersberg kürzlich eine Spende von 500 Euro aus ihrem Verfügungsrahmen als Rathauschefin zugesagt.

In Grafing-Bahnhof hört man in diesen Tagen Vögel singen, Züge fahren ein. Wo vor einem Jahr Kerzen und Blumen für die Opfer standen, huschen Menschen über die Treppen Richtung Bahnsteig oder ins Kiosk. Ein Jahr ist es her, da sperrte die damals 19-jährige Cassandra F. hier wie sonst auch die Kiosktür auf, als sie einen Mann barfuß am Bahnsteig sitzen sah. Minuten später hörte sie draußen die Schreie, das erzählte sie damals der SZ.

Cassandra F. hat im Kiosk mittlerweile aufgehört, hinter dem Tresen steht nun der 20-jährige Idris. In den vier Monaten, seitdem er hier arbeitet, habe er nicht einmal eine Rauferei beobachtet, sagt er. "Ich bin froh, dass ich an diesem Tag nicht Dienst hatte", sagt eine Mitarbeiterin, die im Kiosk Fahrkarten verkauft: "Das Angst-Gefühl verblasst so langsam."

* Alle Namen der Opfer geändert

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URL:
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Quelle:
SZ vom 10.05.2017
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