Süddeutsche Zeitung

Erziehung im Landkreis Ebersberg:"Diese Entwicklung ist großartig"

Lesezeit: 4 min

Individual- und Schulbegleiterinnen wie Eva-Maria Klingl helfen Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung, sich im Kindergarten- und Schulalltag zurecht zu finden

Von Johanna Feckl

Zum ersten Mal huscht Miriams Blick weg von ihren Spielsachen und hin zur Person wenige Meter neben sich. Seit einer guten halben Stunde sitzt dort eine Frau auf dem Boden und beobachtet, wie die Vierjährige und Eva-Maria Klingl gemeinsam spielen. Klingl ist Individualbegleiterin: Sie unterstützt Miriam, die bei ihrem Besuch des Kindergartens zusätzliche Hilfe benötigt - durch ihre Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist Miriam ein Inklusionskind mit einem erhöhten Förderbedarf. Mit Hilfe der Begleitung von Klingl kann Miriam am Gruppenalltag teilnehmen und sich in die Gemeinschaft der Kindergartengruppe integrieren. Oft braucht das Mädchen aber mehr Ruhe als die anderen Kinder. Dann zieht sie sich mit Klingl zurück, so wie jetzt, beim Spielen mit dem Kaufladen. Und auf einmal schnappt sich Miriam einen Spielzeugmuffin, kommt auf die Frau am Boden zu und hält ihr das Teilchen entgegen. Eva-Maria Klingl wird still, sachte schüttelt sie den Kopf, dann lacht sie und sagt: "Jetzt bin ich baff, das ist nicht selbstverständlich, dass sie so etwas tut - Miriam, das ist sehr lieb von dir!"

Seit Januar dieses Jahres begleitet Klingl die vierjährige Miriam, die in Wahrheit anders heißt, in den Kindergarten im Landkreis Erding, jeden Tag zwischen acht und zwölf Uhr sind die beiden da. Zuvor hat Klingl ein Mädchen an der Seerosenschule in Poing begleitet, davor ein Kind in einer Regelklasse einer Grundschule - Schulbegleitung nennt sich die persönliche Unterstützung eines Schulkindes mit Förderbedarf, Individualbegleitung die eines Kindergartenkindes.

Eigentlich ist Klingl Psychologin, mittlerweile arbeitet sie halbtags beim Krisendienst Psychiatrie Oberbayern, wo Menschen bei psychischen Krisen und psychiatrischen Notfällen qualifizierte Soforthilfe erhalten. Außerdem ist sie seit 2017 als Individual- und Schulbegleiterin für den Awo-Kreisverband Ebersberg unterwegs, der einen Teil der Individual- und Schulbegleitungen für die Landkreise Ebersberg und Erding stellt. "Die Arbeit mit den Kindern ist unglaublich abwechslungsreich und genau deshalb mag ich diesen Job so gern."

Das sagt auch Gerhard Schönauer. Als Leiter des ambulanten Dienstes für Menschen mit Behinderung der Awo koordiniert er alle Awo-Individual- und Schulbegleiter für Ebersberg und Erding. "Bei einem Autismus muss die Begleitung eine ganz andere Hilfe leisten als bei einer Sinnes- oder Körperbehinderung", sagt er. So kann beispielsweise bei einem Kind mit einer Gehbehinderung eine Toilettenassistenz zu den Aufgaben gehören, bei einem Kind mit einer Hörbeeinträchtigung oder ASS jedoch nicht.

Bei der Unterstützung für Miriam geht es nicht darum, dass Individualbegleiterin Klingl dem Mädchen vorschreibt, was sie tun und lassen darf, sondern darum, die Bedürfnisse der Vierjährigen zu erkennen und ihr dementsprechend unter die Arme zu greifen. Wird Miriam zum Beispiel unruhig oder beginnt zu schreien - ob das Mädchen jemals sprechen können wird, kann niemand sagen -, dann weiß Klingl: Jetzt braucht das Mädchen Ruhe. Sie nimmt das Kind aus der aktuellen Spielsituation mit den übrigen Kindergartenkindern. In einem separaten Raum hat Klingl einige Spielsachen vorbereitet, die nur für Miriam gedacht sind. Ein kleines Bällebad zum Beispiel oder ein Holzbrett mit ausgestanzten Buchstaben und Zahlen, in die die passenden Gegenstücke gesteckt werden. "Zahlen und Buchstaben findet Miriam gerade besonders spannend," so Klingl. Und wenn die Vierjährige genug hat vom Alleinespielen, dann geht es wieder zurück in die Gruppe.

Im Landkreis Ebersberg haben 97 Kinder und Jugendliche im Schuljahr 2020/2021 eine Individual- oder Schulbegleitung in Anspruch genommen. Im Vorjahr waren es 77 Begleitungen, noch ein Jahr zuvor 60. Ein Blick in den Nachbarlandkreis Erding zeigt, dass dort die Zahlen recht konstant sind: 2020/2021 wurden dort 98 Kinder und Jugendliche begleitet, in den beiden Vorjahren waren es 96. Dennoch: Der allgemeine Trend bei der Nachfrage nach Individual- und Schulbegleitungen steigt, das bestätigt eine Pressesprecherin des Bezirks Oberbayern. Der Bezirk übernimmt die Kosten für Begleitungen bei körperlichen und geistigen Behinderungen aller Altersgruppen sowie bei seelischen Behinderungen wie ASS oder ADHS im Kindergartenalter. Für seelische Behinderungen von der Einschulung an ist das Jugendamt zuständig.

Eine staatliche Ausbildung für die Tätigkeit der Individual- und Schulbegleitung gibt es nicht. Gerhard Schönauer von der Awo sagt, dass die Interessierten aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen: Von Abiturienten, die ein Jahr zur Berufsorientierung überbrücken möchten, über hauptsächlich Frauen, die nach der Geburt der eigenen Kinder wieder arbeiten möchten, aber in ihrem alten Beruf keinen Anschluss mehr finden, bis hin zu Menschen mit einem abgeschlossenen Studium und Berufserfahrung, die eine neue berufliche Umgebung suchen - wie Eva-Maria Klingl. Gemeinsam haben alle Begleiterinnen und Begleiter, so Schönauer, dass sie "eine irrsinnige persönliche Kompetenz mitbringen, obwohl viele ohne pädagogische oder sonderpädagogische Vorkenntnisse zu uns kommen".

Trotz des steigenden Bedarfs - knapp geworden ist es bislang noch nie: Alle Anfragen nach einer Individual- oder Schulbegleitung, die bei der Awo gelandet sind, hätten bislang bedient werden können, so Schönauer. Auch beim Bezirk, der für die meisten Begleitungen der Kostenträger ist und damit einen großen Überblick inne hat, ist laut Pressestelle bislang kein Engpass im Landkreis Ebersberg zu bemerken.

Für Kinder wie Miriam sind das gute Voraussetzungen. Denn ohne eine Individualbegleiterin wie Eva-Maria Klingl könnte das Mädchen im Kindergartenalltag wohl nicht bestehen. So aber ist die Situation für alle ein Win-Win: Regelmäßig erklärt Klingl den anderen Kindern, wieso es bei Miriam so manch einer Ausnahme bedarf, wieso die Vierjährige zum Beispiel im Moment jeden Morgen in die Kiste mit Faschingskostümen greifen und sich eines anziehen darf - das mag sie im Moment besonders gern, an diesem Tag ist es ein pinkes Glitzerkostüm geworden. Die anderen Kinder dürfen das nur während der Faschingszeit. Durch Klingls Erklärungen schärft sich Rücksichtnahme und Verständnis - und ohne das kann Inklusion nicht funktionieren.

Und auf der anderen Seite hat Miriam durch ihre Begleiterin die Möglichkeit, jeden Tag in ihrem Tempo und nach ihren Bedürfnissen zu lernen. "Mittlerweile winkt sie mir sogar zum Abschied", sagt Klingl und wieder lacht sie. "Diese Entwicklung zu sehen ist wirklich großartig." Die Sozialkompetenz des Mädchens habe enorm zugenommen, seitdem sie individuelle Unterstützung bekommt - denn auch, dass sie fremden Personen immer schneller zutraulich wird, sie mittlerweile in ihr Spiel integriert und ihnen Spielzeugmuffins anbietet, sei vor nicht allzu langer Zeit noch unvorstellbar gewesen.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2021
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