Kultureller Höhepunkt im Landkreis:"Schach ist die Musik des Denkens"
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Eine neue Ausstellung in Ebersberg widmet sich den Parallelen zwischen diesen beiden Disziplinen, präsentiert nie gezeigte Exponate - und ein bislang ungelöstes Rätsel. Die Schau sei wie eine "Wunderkammer", sagt Initiator Georg Schweiger.
Von Anja Blum, Ebersberg
Schach spielt man, zumindest in der Regel, gegeneinander - Musik hingegen miteinander. Und doch gibt es zwischen beiden Disziplinen etliche spannende Gemeinsamkeiten - denen sich nun eine neue Ausstellung in Ebersberg widmet. Im Saal unterm First wird sie aufgebaut sein, die Eröffnung aber findet, wegen des zu vermutenden Andrangs, kommendes Wochenende nebenan im Alten Speicher statt. Zu sehen gibt es bislang nie gezeigte Exponate, von schachaffinen Plattencovern über außergewöhnliche Figuren bis hin zu einer längst vergessenen und nun wiederentdeckten Spielvariante, die einst Arnold Schönberg erfand. Außerdem dürfen sich die Besucher an einem bis dato ungelösten Rätsel versuchen. Ein umfangreicher Katalog mit diversen Aufsätzen sowie ein Rahmenprogramm aus Musik, Vortrag und Film runden die Schau auf gelungene Weise ab.
Die Schach- und Kulturstiftung G.H.S. aus Baldham (der Name steht für die Initialen der beiden Gründer, Georg Schweiger und Hannelore Sahm), beschreitet mit dieser Ausstellung wieder einmal interdisziplinäre Pfade. Denn der Vorsitzende Schweiger spielt zwar leidenschaftlich Schach, baut aber auch für sein Leben gerne Brücken, indem er das Spiel gedanklich mit anderen, vermeintlich weit entfernten kulturellen Techniken und Themen vergleicht oder besser: vernetzt. Schach und Poesie, Schach und Politik, Schach und Fotografie, Schach und Religion: Mit all diesen Dualismen hat sich die 2010 gegründete Stiftung bereits auseinandergesetzt. Und Schweigers Fazit ist jedes Mal dasselbe: "Es gibt viel mehr Gemeinsames als Trennendes."
Die Entstehung
So auch bei dem aktuellen Thema. Schon lange trug Schweiger die Idee "Schach und Musik" mit sich herum, bis er und seine Mitstreiter von der Stiftung, allen voran die Kunsthistorikerin Natascha Niemeyer-Wasserer aus Zorneding, sich vor eineinhalb Jahren konkret ans Werk machten, also zunächst an die Recherche und dann an die Planung. Dabei sei bei derartigen Projekten schon viel guter Glaube nötig, so Schweiger, denn ob es am Ende tatsächlich für eine sehenswerte Ausstellung reiche, wisse vorher niemand zu sagen.
Doch nun ist Schweiger glücklich - denn das Ergebnis übertraf all seine Erwartungen. "Es ist unglaublich, wie viel wir gefunden haben, ich bin selbst total erstaunt!" Möglich gemacht hätten dies aber nur "unfassbar viele, ganz unglaubliche Zufälle", da habe diesmal wirklich der eine den anderen gejagt, erzählt der Baldhamer mit leuchtenden Augen. Hier ein Hinweis, da eine Fußnote, immer mehr Entdeckungen seien so zusammengekommen. Sogar so manches private Gespräch habe sich, gänzlich unerwartet, als äußerst fruchtbar für die Ausstellung erwiesen. Wichtig, weil sehr hilfreich, sei aber auch das Renommee, das sich die Baldhamer Stiftung dank ihrer bisherigen Ausstellungen erarbeiten konnte: "Vor allem unsere Kataloge werden von vielen hochgeschätzt - und das ist natürlich ein Türöffner", freut sich Schweiger.
Das Konzept
Doch bei Weitem nicht alles, was den Ausstellungsmachern zu ihrem Thema begegnet ist, hat auch Eingang gefunden. "Es geht hier weder um Vollständigkeit, noch darum, irgendwelchen Schachspezialisten etwas zu bieten", erklärt Schweiger. Vielmehr wolle man sich an eine generell kulturinteressierte Öffentlichkeit wenden, an Musikliebhaber etwa und all jene, die sich gelegentlich ans Brett setzen oder eine Schach-Kolumne lesen. "Beides tun nämlich erstaunlich viele Menschen." Die Ausstellung wird also - zumindest in Schweigers Augen - nur Weniges zeigen, dafür aber lauter überraschende Besonderheiten, Kuriositäten gar. Ganz bewusst habe man sich für das Konzept einer kleinen, aber feinen Wunderkammer entschieden - "man könnte auch sagen für Tapas, diese wundervollen spanischen Häppchen". Insofern müsse sich die Ebersberger Schau nun vor den Präsentationen großer Häuser nicht verstecken - "und das, obwohl bei uns alles ehrenamtlich passiert".
Was dabei aber ganz dezidiert nicht im Fokus steht, sind die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Schach und Musik, also jene Erkenntnisse und Spekulationen rund um die neurologische Theorie, dass in beiden Fällen dieselben Gehirnareal aktiv seien. "Dazu gibt es viele höchst komplizierte Aufsätze", sagt Schweiger, "aber dieses Thema interessiert doch nur die Allerwenigsten". Für den 73-Jährigen hingegen sind im Verhältnis von Schach und Musik drei ganz andere Parallelen entscheidend.
Gemeinsamkeiten zwischen Schach und Musik
"Die erste ist: Beides kann einen ein Leben lang begleiten." Sowohl Schach als auch Musik werde von Achtjährigen genauso gespielt wie von Achtzigjährigen. Außerdem gebe es in beiden Bereichen immer wieder Wunderkinder - "Zufall, oder nicht? Erstaunlich ist es allemal." Auch für seinen zweiten Punkt kann, oder vielmehr will Schweiger keine wissenschaftlichen Belege anführen, sondern schöpft aus seiner Erfahrung: "Mir haben schon ganz viele Menschen erzählt, dass für sie sowohl Schach als auch Musik eine Art Lebenshilfe seien." Selbst in größter seelischer oder wirtschaftlicher Not lieferten beide - ohne große Kosten oder viel Aufwand - eine geistreiche, sinnstiftende, erfüllende Beschäftigung. Das Schachspiel habe, wie die Liebe und die Musik, die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen, sagte einst die Spielerlegende Siegbert Tarrasch. Und Schweigers drittes Argument für eine innere Verwandtschaft ist, dass Schach wie Musik völkerverbindend seien. Beides werde nach universal verständlichen Regeln gespielt, so dass eine Kommunikation über alle Sprachgrenzen hinweg möglich sei. "Unsere Spielercommunity ist jedenfalls genauso international wie viele Bands oder Orchester", weder im Schach, noch in der Musik gebe es so etwas wie Rassismus. "Bei Schachturnieren oder Konzerten ist klar zu sehen, dass Herkunft oder Hautfarbe keine Rolle spielen." Beide Disziplinen sind für Schweiger globale Kulturgüter.
"Schach ist die Musik des Denkens", so laute ein geflügeltes Wort, sagt der 73-Jährige, das den Zusammenhang wunderbar zusammenfasse. Zu erkennen sei diese innere Affinität auch an zahlreichen Beispielen für eine Doppelbegabung, an Musikern also, die ausgezeichnete Schachspieler sind - und umgekehrt. "Das hat auch gar keine soziologischen Gründe, wie man vielleicht annehmen könnte", erklärt Schweiger. Zwar habe es natürlich zur standesgemäßen Ausbildung des klassisches Bürgertums gehört, Schach und ein Instrument spielen zu lernen - doch dabei sei es bei weitem nicht geblieben. "Gerade im Krieg sind viele bildungsferne Menschen mit Musik und Schach in Berührung gekommen": In den Lagern, für Soldaten oder Kriegsgefangene, habe beides Trost und Zeitvertreib geboten. Und so sei das Spiel der Könige eben auch in weniger klassischen Musikerszenen angekommen, im Jazz, Pop und sogar im Rapp. Jedenfalls spielten nicht nur Robert Schumann und Sergei Prokofjew Schach, sondern auch Charles Mingus und Co.
Die Exponate
Doch was genau wird nun eigentlich in der Ausstellung präsentiert? Zunächst einmal: mehr als 80 Plattencover mit Schachmotiv - wobei die inhaltliche Verschränkung mit dem Sujet natürlich mal mehr, mal weniger gegeben ist. "Manche nutzen es auch nur als Gag", sagt Schweiger. Doch zu finden sind Anspielungen auf das Spiel zuhauf, von Klassik bis Punk, von Mozart und natürlich Philidor über Genesis, Deep Purple, Chris de Burg, Tom Jones bis hin zu Manuel Göttsching, einem Techno-Guru der 80er, und den Rolling Stones. Deren "Unreleased Chess Session" entstand 1964 in Chicago, in den heiligen Hallen des Chess-Studios. Auf dem Cover ragen hinter den Musikern überdimensionale Figuren auf. Und Schweiger ist überglücklich, eine dieser Platten sein Eigen nennen zu können: "Von dieser Edition gibt es gerade mal tausend Stück."
Doch die Ausstellung erschöpft sich beileibe nicht in Plattencovern, es gibt noch vielerlei mehr zu bestaunen. Zu den vielen Raritäten gehört zum Beispiel ein Schachspiel aus Holz, unter dessen herrlichen Figuren sich auch einige Musikanten befinden: ein ungewöhnliches Objekt aus dem Museum für Volkskunde in Wien - das außerhalb dessen noch nie zu sehen war. Ein Glanzstück und Unikat ist auch ein Spiel, dessen Figuren aus Bernstein gefertigt sind und teilweise Instrumente darstellen: filigrane Geigen, Harfen, Pauken, sogar einen kleinen Dirigenten gibt es. Ebenfalls zu den Besonderheiten unter den Exponaten zählt eine Partitur zur Vertonung der "Schachnovelle" der Komponistin Violeta Dinescu.
Herzstück aber ist ein "musikalisches Schachspiel" aus dem Jahr 1852. Dabei handelt es sich um einen Spielplan mit 14 mal 10 Feldern, wobei sich aber nur in der Mitte die typischen, schwarz-weißen Quadrate befinden. Oben und unten zeigen die Felder Notenlinien, auf denen C-Dur-Tonleitern unterschiedlicher Höhe notiert sind. Dazu gibt es Spielfiguren, denen wiederum die C-Dur-Notenwerte zugeordnet sind. Erfunden hat dieses Spiel eine Pianistin aus München, Gertrud Gompertz, es war wohl Teil ihrer Klavierschule. Das in Ebersberg ausgestellte Exemplar gilt in der Forschung als bislang einzig bekanntes, es handelt sich dabei um eine Leihgabe des Bayerischen Nationalmuseums. Das Problem: Eine Gebrauchs- oder Spielanleitung dafür ist leider nicht mehr vorhanden. Das heißt, momentan weiß niemand, wie Gompertz ihr Spiel im Unterricht einzusetzen gedachte. Wer immer also bewandert ist in Schach wie Musik, möge seinen Kopf einmal darüber beugen.
Doch auch noch ein anderes Stück gibt es, das den Gehirnwindungen Futter liefern kann: ein Koalitionsschach des Komponisten Arnold Schönberg. Dieser nämlich suchte nicht nur die Musik zu revolutionieren, sondern gab auch in allen möglichen anderen Bereichen den Pionier. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs habe Schönberg denn auch eine neue Schachvariante erfunden, erzählt Schweiger: Gleich vier Mächte, zwei große und zwei kleinere, ringen hier in Zweierteams miteinander, außerdem gibt es spezielle Regeln und Figuren. Kanonen zum Beispiel, Panzer, U-Boote und Flieger, wobei diese ungleich unter den Spielern verteilt sind. Diese Asymmetrie aber bedeute, so Schweiger, dass gar keine Zeit sei, von langer Hand ausgeklügelte Stellungen aufzubauen. "Hier geht es einzig und allein um schnelle, brutale Vernichtung." Insofern halte er diese Variante leider für ziemlich unpraktikabel.
Und der Baldhamer weiß, wovon er spricht, denn er hat Schönbergs Schach mit drei professionellen Spielern ausprobiert. Nur sechs Züge habe die Partie gedauert, erzählt er und lacht, "wir konnten überhaupt nichts machen, die Flieger waren einfach überproportional stark". Trotzdem sei diese Begegnung am Brett so interessant wie unterhaltsam gewesen, man habe nämlich alles ausführlich kommentiert, gemeinsam an der Taktik gefeilt und dabei über Schönberg genauso gesprochen wie über den Krieg in der Ukraine. "Das hatte alles eher Improcharakter", so Schweiger. Und die Besucher der Ausstellung dürfen nun daran teilhaben: Ilke und Toni Ackstaller, zwei Filmer aus Ebersberg, haben die Partie begleitet, die Doku feiert am Abend der Vernissage ihre Premiere.
Der Katalog
Unbedingt zu empfehlen ist auch der Blick in den Katalog zur Ausstellung, denn darin sind nicht nur Abbildungen vieler Exponate zu finden, sondern auch diverse lesenswerte Aufsätze. Um das Thema Doppelbegabung geht es bei Helmut Pfleger und Volker Ahmels, ersterer liefert einen umfassenden Überblick, zweiterer einen eher persönlich gefärbten Beitrag. Thomas Synofzik gibt eine gründliche Zusammenstellung der spielerischen Aktivitäten von Robert Schumann, Rainer Buland widmet sich jenem Schachbrett, das mit Volksmusikanten bespielt wird, und Hans Ellinger gelang ein geradezu sensationeller Fund: Er entdeckte in einer Genfer Bibliothek etliche Kompositionen eines ehemaligen russischen Schachfunktionärs, über dessen musikalische Bedeutung bislang kaum etwas bekannt war.
Natascha Niemeyer-Wasserer wiederum befasst sich mit einem nie im Detail untersuchten Aspekt der Kunstgeschichte, nämlich mit Gemälden, die sowohl Schach- als auch Musikmotive aufweisen. Außerdem hat die Zornedingerin zu dem "Musikalischen Schachspiel" von Gertrude Gompertz geforscht. Georg Schweiger schreibt über das Koalitionsschach von Schönberg, und Siegfried Tschinkel bereichert die Publikation mit Aufsätzen über die Geschichte des Musicals "Chess" und über die Schachoper von Peter Mitschitczek.
Man sieht: Auch so ein tolles Projekt wie diese Ausstellung kann nur im Miteinander und mit großem Idealismus gelingen. Emanuel Lasker, einst deutscher Schachweltmeister, schrieb: "Sowohl der Musik- als auch der Schachliebhaber träumen Märchen, in denen alle Dinge lebendig sind und daher reden und fühlen. Es ist ein holdes, nicht mehr zu analysierendes Gaukelspiel, in das sie sich verfangen."
Ausstellung "Schach und Musik" im Saal Unterm First (Bürgerhaus im Klosterbauhof Ebersberg) zu sehen bis 27. November, geöffnet freitags 18 bis 20 Uhr, samstags und sonntags 14 bis 18 Uhr.
Vernissage am Alten Speicher am Samstag 5. November, um 19 Uhr, mit einem Eröffnungsvortrag von Helmut Pfleger, einer Vorstellung des Katalogs durch Natascha Niemeyer-Wasserer, der Premiere des Kurzfilms zu Schönbergs Koalitionsschach und Darbietungen der Musikschule.
Sonntag, 6. November, 15 Uhr im Alten Speicher: Schach-Oper für Kinder "Die weiße Bäuerin" von Peter Mitschitczek
Freitag 18. November, 20 Uhr im Alten Kino: Vortrag mit Musik , Volker Ahmels zum Schach-Musik-Mathematik-Phänomen
Freitag 25. November, 20 Uhr, Unterm First: Film-und Musikabend , Ballett "Checkmate" von Arthur Bliss als Video sowie weitere Beispiele