"Der Stellvertreter" im Volkstheater München:Der Vatikan und die Gaskammern
Lesezeit: 4 Min.
Warum hat Papst Pius XII. nichts gegen die Judenvernichtung im Dritten Reich unternommen? Intendant Christian Stückl inszeniert den "Stellvertreter" am Münchner Volkstheater neu - gestern Abend war Premiere. Auch ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung ist Hochhuths Stück noch hochaktuell.
Beate Wild
Warum hat man dem Massenmord nicht Einhalt geboten? Warum hat der Papst nichts gesagt, als die Nazis Tausende Juden deportierten? Warum hat der selbsternannte "Stellvertreter Gottes" geschwiegen, als er sah, dass Millionen Menschen vom Nazi-Regime umgebracht wurden? Fragen von ungeheuerlicher Dimension. Und Fragen, um die es am Mittwochabend im Münchner Volkstheater ging. Es war die Premiere von "Der Stellvertreter" - dem Stück von Rolf Hochhuth, das vor 49 Jahren in Deutschland für einen veritablen Skandal sorgte. Jetzt hat sich Intendant Christian Stückl an das Werk gewagt.
Einen Eklat provoziert "Der Stellvertreter" heute nicht mehr. Wir schreiben das Jahr 2012. Und doch ist das Stück noch immer hochaktuell. In mehr als drei Stunden geht es um die Haltung des Vatikans zum Holocaust. Das damalige Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Pius XII., wird angeklagt, nichts gegen Hitler unternommen zu haben. Nur geschwiegen zu haben.
Christian Stückl bettet die Handlung in eine moderne Rahmenhandlung ein: Es beginnt mit zwei Studenten, die - vermutlich in der Uni-Bibliothek - lebhaft über die Rolle des Vatikans im Dritten Reich diskutieren. Der eine klagt die Haltung der Kirche an. Sie hätte sich weggeduckt. Und damit klar Schuld auf sich genommen. Der andere verteidigt die Führung in Rom, sagt lachend zu seinem Kommilitonen, er hätte wohl zu viel Hochhuth gelesen.
Doch dann beginnt er zu lesen in den Unterlagen und Geschichtsdokumenten und muss erkennen, dass die katholische Kirche wohl doch nicht richtig gehandelt hat. Plötzlich ist der Student kein Student mehr, sondern der Jesuitenpater Riccardo Fontana (überzeugend gespielt von Pascal Riedel). Wir befinden uns in Nazi-Deutschland, irgendwann Anfang der vierziger Jahre. Der Pater ist in die päpstliche Nuntiatur nach Berlin geschickt worden. Dort erfährt er durch den SS-Offizier Kurt Gerstein, der das Grauen in Auschwitz selbst gesehen hat, die Wahrheit über das Schicksal der deportierten Juden. Er erfährt von den Gaskammern.
Gerstein spricht in der Berliner Außenstelle des Vatikans vor, in der Hoffnung, die Priester würden etwas gegen die massenhafte Vernichtung der Juden unternehmen. Doch er stößt auf taube Ohren. Dafür ist Pater Riccardo um so entsetzter und nimmt sich als oberstes Ziel vor, den Papst (gespielt von Oliver Möller) von einer Intervention zu überzeugen.
Selbst heute noch ein Aufreger
Bei der Uraufführung durch Regisseur Erwin Piscator 1963 in Berlin entfachte das Theaterstück einen Aufruhr in bestimmten Kreisen der Gesellschaft - und vor allem in der katholischen Kirche. Es kam zu Demonstrationen - während der Vorstellung protestierten Theaterbesucher mit Trillerpfeifen und Buhrufen, teils gegen den Papst, teils gegen dessen Verleumdung. Der damals 32-jährige Hochhuth hatte mit seinem Stück einen Finger in die offene Wunde der Vergangenheitsverdrängung der Wirtschaftswundergesellschaft gelegt.
"1963 war das Stück vielleicht auch für manche in Deutschland eine große Befreiung", sagte Stückl im SZ-Interview. "Man konnte dann sagen: Der Papst hat auch nichts getan, weshalb hätte ich etwas tun sollen."
Selbst als "Der Stellvertreter" 25 Jahre später, 1988, in München zum ersten Mal gezeigt wurde, kam es abermals zu heftigen Protesten. Kirchenleute und Konservative machten mobil gegen das Stück. Dass "Der Stellvertreter" heute keinen Eklat dieser Art mehr hervorruft, dessen ist sich Stückl bewusst. Doch er weiß auch, dass das Thema Kirche und Judenvernichtung nie ad acta gelegt werden kann. Selbst im Jahr 2012 hat der Regisseur Briefe bekommen, in denen er gefragt wurde, weshalb er eine Neuinszenierung wage - und ob das denn wirklich nötig sei.
Stückl gilt als Experte fürs Katholische, da er seit Jahrzehnten die Passionsspiele in Oberammergau leitet; kürzlich inszenierte er auch Pfitzners "Palestrina". Er stürzt sich engagiert auf komplexe Themen im christlichen Kontext. "Seit 25 Jahren beschäftigt mich der Antijudaismus in der Kirche, dann las ich dieses Stück - und wusste, das mache ich jetzt", sagt er.
Die zentrale Rolle in Stückls Inszenierung spielt nicht Pius XII., sondern der junge Jesuitenpater Riccardo. Er versucht vergebens, das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche dazu zu bewegen, die Welt durch eine öffentliche Stellungnahme aufzurütteln.
In Rom erfährt er, dass der Vatikan überhaupt nicht vorhat zu intervenieren. Als sich auf Befehl des NS-Regimes selbst in Rom die Juden zum Abtransport sammeln müssen und der Papst seine Stimme noch immer nicht erhebt, heftet sich Riccardo den Gelben Stern an und lässt sich mit den Juden nach Auschwitz deportieren.
Es ist schon erstaunlich, wie das junge Team vom Christian Stückl den schweren Stoff modern und ohne falsches Pathos auf die Bühne bringt. Stückl erzählt, dass die jungen Schauspieler zuvor nicht sehr viel wussten über die Thematik. "Max Wagner beispielsweise, der den Gerstein spielt, hat alles aufgesogen wie ein Schwamm", sagt Stückl.
Und dass der Schauspieler tief in die Rolle des SS-Offiziers mit Gewissen eingetaucht ist, spürt man etwa in dem Monolog, den Gerstein nach seinem Besuch in Auschwitz hält. Der Arzt und Ingenieur war dorthin geschickt worden, um mit Zyklon B die Tötung der Juden zu perfektionieren. Angesichts des Grauens dort verweigert er sich. In Berlin berichtet er Riccardo von seinen Erlebnissen, und zwar derart detailliert und nachdrücklich, dass man als Zuschauer gar nicht anders kann, als seine Gefühle nachzuempfinden.
Auch Pascal Riedel, der den Riccardo gibt, schlüpft überzeugend in die Rolle des Paters. Er spielt den jungen Hitzkopf, der noch an das Gute glaubt. Den bösen Gegenpart übernimmt ebenfalls Oliver Möller in der Rolle eines Auschwitz-Doktors. Die Darstellung des personifizierten Teufels gelingt ihm eindrucksvoll.
Doch es liegt auch an der Regie von Christian Stückl, dass der Stoff im Volkstheater zeitgemäß daherkommt und zum Nachdenken zwingt. Stückl hat Hochhuts Vorlage drastisch gestrafft und reduziert. Der Fokus liegt nicht so sehr auf dem schweigenden Papst, sondern mehr auf dem Pater, der Gutes will und doch scheitert.
Am Schluss sagt der Student zu seinem Kommilitonen: Die Frage ist doch, gibt es überhaupt einen Gott. Was interessiert mich der Stellvertreter, wo war denn sein Chef? Dies ist und bleibt eine der ganz großen Fragen nach dem Warum und dem Wieso. Letztlich geht es um die Theodizee.