Süddeutsche Zeitung

Aufwendiges Bauprojekt:Das Wunder von Tandern

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Das Vollmairhaus war völlig heruntergekommen. Nun strahlt der historische Bau in neuem Glanz

Von Benjamin Emonts

Das Vollmairhaus erstrahle jetzt in einem "kaum vorstellbaren Glanz", so heißt es in einer E-Mail aus Tandern. In der Ortschaft angekommen, kann man seinen Augen dann tatsächlich kaum trauen. Noch vor wenigen Jahren hatte das denkmalgeschützte Haus inmitten des Dorfes ausgesehen wie ein Geisterhaus. In einem Horrorfilm wäre eine Bande Jugendlicher dort nach Einbruch der Dunkelheit auf Untote oder den grauenerregenden Clown Pennywise getroffen. Jetzt aber strahlt das Haus plötzlich so weiß und unschuldig, als wäre nie etwas gewesen. Fast wirkt es so, als hätte jemand ein völlig neues Gebäude an die Stelle des einstigen Gruselhauses gesetzt.

Für die Bürger im 1300-Seelen-Dorf Tandern im nördlichen Landkreis Dachau war das alte Vollmairhaus lange ein "Schandfleck", dessen Anblick sie kaum ertragen konnten. Das Haus wurde 1877 erbaut und 1909 erweitert zu einem stattlichen Wohn- und Geschäftshaus im bürgerlichen Stil der Jahrhundertwende. Schon damals fand sich im Erdgeschoss ein Kramerladen, in dem die Dorfbewohner ihren täglichen Bedarf decken konnten. Der katholische Theologe und Publizist Joseph Bernhart beschrieb das Haus 1919 in seinem autobiografischen Roman "Der Kaplan" so: "... ein Haus inmitten der Düngerhaufen, der schlechten Straßen mit nassen Fuhrgleisen, trägen Ochsengespannen und Jauchefässern, wo man kaufend aus und ein ging und ein Häufchen von Dingen, die Rost und Motten verzehren, beisammen sah. Stoffe, Bänder, Spielzeug, Lampen, Kaffeetassen, Indianergeschichten mit blutigen Bildern, blankes Küchengerät, ein lockeres Wirrsal nötiger und schöner Sachen stach in die Augen und machte die Sinne wach und begehrlich."

Viele Dorfbewohner haben prägende Erinnerungen

Noch bis zum Anfang der 1990er betrieben die im Dorf sehr beliebten Schwestern Maria und Anna Vollmair den Warenladen und führten eine Bücherei. Der Tanderner Hans Michalke, Vater der Drehbuchautorin Karin Michalke ("Beste"-Trilogie), erinnert sich, wie er als Kind, sofern das Geld reichte, dort Schokoküsse kaufte oder sich die Geschichten von Karl May und die Abenteuer von Robinson Crusoe durchlas. Viele Menschen im Dorf verbinden prägende Erinnerungen mit dem Haus.

Allmählich jedoch verkam das Vollmairhaus zu einer Ruine: eingeschmissene Scheiben, abgerissene Fensterläden, bröckelnder Putz, und die Fassade dunkel verfärbt. Selbst der Name von Familienoberhaupt Peter Vollmair über dem Hauseingang war nicht mehr ganz zu lesen, weil Buchstaben abblätterten. Der Eingang war von Bäumen und Büschen so zugewachsen, dass man befürchten musste, es läge wie beim Dornröschenschloss ein Fluch über dem Haus.

Doch nun diese spektakuläre Wandlung. "Wir hatten schon selber nicht mehr daran geglaubt", sagt Hans Glas. "Ein fast unerfüllbarer Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Die vielen Emotionen und das Kämpfen haben sich gelohnt." Glas, ein ehemaliger Tanderner Gemeinderat, hat maßgeblichen Anteil daran, dass das Haus nun diesen "Glanz" hat, den er in der E-Mail beschreibt. Die Gemeinde hatte das Anwesen 1994 zwar erworben, doch eine teure Sanierung wollte man sich ersparen. Im Jahr 2006 kaufte das Haus dann der wohlhabende Tanderner Unternehmer Helmut Altmann, der inzwischen verstorben ist und dessen Sohn Maximilian die Geschäfte übernommen hat. Der Familie gehört auch das Tanderner Schloss und das Gasthaus neben dem Vollmairhaus. Gegen den Verfall des Gebäudes unternahmen die Altmanns zunächst jedoch nichts. Im Jahr 2013 gründeten Hans Glas und ein Dutzend Bürger dann den Verein "Zukunft Tandern", der sich zum Hauptziel setzte, die Sanierung in die Wege zu leiten. Es folgten jahrelange Verhandlungen im Gemeinderat und mit dem Besitzer. In dem Gremium kam es zu hitzigen Diskussionen. Alte Ressentiments zwischen Hilgertshausen und Tandern, die 1978 nach der Gebietsreform in Bayern zwangsvereinigt wurden, brachen teilweise wieder auf. Besonders die Idee, das Vollmairhaus könnte nach einer Sanierung zum Rathaus gemacht werden, stieß im Nachbarort Hilgertshausen auf blanke Empörung. Aufgrund der größeren Einwohnerzahl entsendet die Ortschaft seit jeher mehr Volksvertreter in den Gemeinderat, den die Tanderner einst jahrelang boykottierten. Das Rathaus dort ist klein und mutet etwas großmütterlich an. Aber ein Rathaus in Tandern? Daran war für die Hilgertshausener gar nicht zu denken.

Im Jahr 2018 kam man schließlich zu einer Lösung, bei der die Kommune außen vor war. Die Altmanns verkauften das gesamte Gebäude für den symbolischen Preis von einem Euro an Bauunternehmer Hans Michalke, damit der es saniert und an eine Eigentümergesellschaft veräußert. Für den eingefleischten Tanderner war das Vollmairhaus ein Herzensprojekt, dem er seine volle Aufmerksamkeit widmete. Heute sieht man das dem Haus an. Denn Michalke nahm ein Mammutprojekt in Angriff, an dem mehr als 30 Gewerke beteiligt waren und das etwa zwei Millionen Euro gekostet hat. Mehr als 570 Quadratmeter Wohnfläche wurden seit Frühjahr 2019 kernsaniert. In die maroden Decken wurden elf Tonnen Eisen eingebaut, die Dachhaut des historischen Mansardendachs wurde komplett erneuert, die maroden Dachbalken erheblich verstärkt. Im Außenbereich entstanden 13 Stellplätze. Womöglich wäre die Idee mit dem Rathaus doch nicht so übel gewesen.

Auffällig ist die Liebe zum Detail. Unterhalb des Daches beispielsweise ist die Patrona Bavariae als Kirchenmalerei auf Glas zu sehen, von innen leuchtet sie tagsüber rot, von außen bei Dunkelheit blau. Mehr als 100 Jahre alte Doppelfenster wurden zu erheblichen Kosten restauriert, historische Fenstergitter und Fensterläden blieben erhalten. Ins Dachgeschoss, das ursprünglich als Dachspeicher genutzt wurde, hat Michalke zwei moderne Wohnungen eingebaut, drei weitere befinden sich im Obergeschoss. Eine der Wohnungen behielt Michalke selbst, die anderen wurden noch vor dem Bau an Einheimische verkauft. Allesamt sind sie bereits bewohnt.

Im Erdgeschoss wiederum finden sich geräumige Bäder, eine Teeküche und ein großer Saal, der sich durch Trennwände in drei Einheiten teilen lässt. Der gesamte Bereich soll für Veranstaltungszwecke, Tagungen oder als Ort der Begegnung von den Dorfbewohnern genutzt werden. Die Familie Altmann hat das Erdgeschoss zum regulären Preis zurückgekauft. Nur so, sagt Michalke, sei das Projekt realisierbar gewesen. "Das ist höchst anerkennenswert. Die Familie Altmann ist Tandern sehr verbunden."

Inwiefern nun die Bürger im Dorf profitieren, ist noch nicht klar. Ein geplanter Kabarettabend und alle anderen sozialen Vorhaben sind wegen der Pandemie vorerst gestrichen. Altmann senior soll Glas zufolge vor seinem Tod gesagt haben, dass das Haus öffentlich genutzt werden soll. Denkbar ist nun wohl auch, dass Dorfbewohner den Saal mieten könnten, während der Wirt von nebenan das Catering übernimmt. Doch das ist alles Zukunftsmusik. Der Verein Zukunft Tandern, der heute fast 120 Mitglieder zählt, atmet nun erst einmal auf. Der Schandfleck in ihrem Dorf ist nun beseitigt, und auch die Durchreisenden müssen sich nicht länger gruseln.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2020
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