Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Wandel durch Wachstum, Folge 8:Münchner Verhältnisse

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Der Landkreis Dachau wächst so schnell, wie kein anderer. Doch das hat nicht nur positive Folgen: Wohnraum wird knapp und teuer, ausreichend Betreuung für Kinder fehlt. Die Folgen des sozialen Wandels

Von Jacqueline Lang, Dachau

Da gibt es das frisch getrennte Paar, das immer noch zusammen in der gemeinsamen Wohnung leben muss, weil keiner der beiden adäquaten Ersatz findet. Da gibt es die junge Mutter, die mittlerweile drei Jobs hat, weil sie mit einem schon lange nicht mehr über die Runden kommt. Und da gibt es den älteren Herren, der nach jahrelanger Arbeit von der kleinen Rente nicht leben kann und kurz vor der Obdachlosigkeit steht.

Der Landkreis wächst und wächst und wächst. Ja, er boomt geradezu. Dachau, zu diesem Ergebnis kommen neueste Statistiken, ist der mit Abstand am stärksten wachsende Landkreis in der Metropolregion München. "Dem demografischen Profil des bayerischen Landesamts für Statistik für den Landkreis Dachau ist zu entnehmen, dass mit 17,2 Prozent Bevölkerungswachstum bis 2035 die höchste Wachstumsrate aller kreisfreien Städte und Land-kreise Bayerns prognostiziert wird", heißt es dazu schon in einem Bericht des bayerischen Landesamt für Statistik aus dem Jahr 2016. Wenn die Prognosen stimmen, werden demnach im Jahr 2035 im Landkreis Dachau 175 000 Menschen leben.

Doch längst nicht alle profitieren von dieser Entwicklung. Wo es Gewinner gibt, muss es scheinbar auch immer Verlierer geben. Ein Blick ins nahegelegene München reicht, um das zu verstehen. Und wie in der Landeshauptstadt, trifft es auch im Landkreis Dachau Kinder, junge Familien, Menschen mit Migrationshintergrund und alte Menschen am härtesten.

Als Sozialpädagogin und als Leiterin der Fachstelle Kinder, Jugend und Familien des Caritas- Zentrums Dachau trifft Susanne Frölian fast täglich Menschen, die zu kämpfen haben. "Die finanzielle Belastung steigt", sagt sie. Das sei zwar grundsätzlich keine ganz neue Entwicklung, aber es sei schon so, dass die sozial Schwächeren zuerst weichen müssten, wenn sich eine Stadt oder, wie in diesem Fall, sogar ein ganzer Landkreis wandele und wachse. Denn der Zuwachs bedeutet zwar einerseits mehr Perspektiven, mehr Jobs, mehr Wohlstand. Er bedeutet aber auch: weniger Platz, steigende Mieten - und damit auch insgesamt weniger Chancen für jene, die es sowieso nicht so leicht haben: Wenn die Zahl der Menschen größer wird, dann bekommt eben nicht der Asylsuchende die Wohnung, sondern jemand mit einem gut bezahlten Job. Selbstverständlich sei das Thema Wohnen zwar nur eines der vielen Probleme der Menschen im Landkreis, sagt Sozialpädagogin Frölian, aber doch auf jeden Fall das zentralste. Und: Ohne die oftmals prekären Wohnsituationen gäbe es viele andere Probleme erst gar nicht.

Beengte Wohnsituationen führen häufig zu Stress. Stress unter dem vor allem Kinder häufig extrem zu leiden haben. Wenn die Eltern getrennt seien, sich aber nicht aus dem Weg gehen könnten, verursache das Streit. Die daraus resultierenden Spannungen bekämen natürlich auch die Kinder zu spüren. Wenn beide Eltern gezwungenermaßen arbeiten müssten, um für den Lebensunterhalt aufzukommen, bedeute das, dass die Eltern weniger Zeit für ihre Kinder hätten. Die Eltern seien nach einem langen Arbeitstag häufig schlichtweg zu erschöpft für gemeinsame Aktivitäten - und sei es nur bei den Hausaufgaben zu helfen.

Bei zugezogenen Familien fehle zudem in den meisten Fällen das soziale Netzwerk. Das bedeute zum einen wenige gemeinsame Zeit für sich als Paar, zum anderen bedeute das auch Angst um den Arbeitsplatz. Etwa wenn das Kind oft krank sei und man niemanden habe, der sich kümmern könne. "Es hängt wirklich viel miteinander zusammen", so Frölian. Das Angebot der Caritas sei vielseitig, sagt Frölian. Es gebe eine Jugend- und Elternberatung, eine Kinder- und Säuglingssprechstunde, eine Schuldnerberatung und seit Kurzem sogar eine extra Anlaufstelle für Menschen mit Migrationshintergrund sowie das neu eröffnete Caritaszentrum in Markt Indersdorf, das eine eigene Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit habe. Was bislang noch fehle, sei jedoch ein Familienzentrum, wie es das in vielen anderen Landkreisen längst gebe. "Es braucht im Landkreis Anlaufstellen, um leichter mit anderen Familien in Kontakt zu kommen und Netzwerke aufzubauen", sagt Frölian. Gerade Familien, die neu in den Landkreis kämen, wüssten oft nicht, an wen sie sich mit ihren Fragen wenden könnten, welche Stelle für was zuständig sei.

Was trotz neu geschaffener Stellen und neu gebauter Kindergärten immer noch fehle, seien ausreichend Betreuungsplätze für Kinder. "Eltern suchen oft sehr verzweifelt nach Plätzen", sagt Marina Braun. Kinder würden zudem immer früher abgegeben, so die stellvertretende Vorsitzende des AWO Kreisverbandes Dachau und zuständig für den Fachbereich Kinder und Jugend. Schon immer seien die Betreuungsstellen ab sieben Uhr früh offen gewesen, aber erst seit ein paar Jahren werde dieses Angebot in den sogenannten Randzeiten auch wirklich von vielen Eltern genutzt - vereinzelt gebe es sogar Anfragen für ein noch früheres Angebot. "Früher war eine Betreuerin ausreichend, mittlerweile sind meistens zwei oder sogar drei im Einsatz", sagt Braun. Auch sie nennt als Grund, dass zwei berufstätige Elternteile mittlerweile die Regel seien. Von vielen bekomme sie mit, dass der Arbeitgeber Druck mache, pünktlich zu sein - schwierig sei das vor allem dann, wenn der Arbeitgeber auch noch in München sitze. Denn auch, dass viele Eltern pendeln, sei mittlerweile Standard.

Obwohl man die Gruppengröße schon von 25 auf 27 beispielsweise im Kinderkrippenbereich aufgestockt habe und die Stadt kontinuierlich das Angebot ausbaue, gebe es immer noch in allen Altersgruppen Wartelisten. Was also machen die Eltern, die keinen Platz für ihr Kind finden? Die Eltern wüssten sich in der Regel gut zu organisieren. "Sie haben ja leider auch gar keine andere Wahl", sagt Braun.

Das Gefühl, dass die Kinder unter dem vermehrten Druck leiden, hat Braun jedoch anders als Frölian nur in Einzelfällen. Kinder verstünden die Situation meistens sehr gut und es gebe nur wenige, die wirklich von 7 bis 17.30 Uhr, also den ganzen Tag, in einer Fremdbetreuung untergebracht seien. Zudem hat Braun die Erfahrung gemacht: "Es kommt auf die Qualität der mit dem Kind verbrachten Zeit an." Wenn Eltern sich abends bewusst Zeit nehmen würden, sei es für die Kinder in der Regel kein Problem, wenn sie quantitativ weniger gemeinsame Zeit mit Mama oder Papa hätten. An Veränderungen im Allgemeinen könnten sich Kinder schnell anpassen.

Und auch wenn sich durch das enorme Wachstum viel verändert im Leben einzelner: Aus dem aktuellen Armutsbericht für den Landkreis (Stand 2016) gehe hervor, dass sich die Lage nicht signifikant verschlechtert habe seit 2013, sagt Heidi Schaitl. Tatsächlich seien die Zahlen so stabil, dass man sich dazu entschlossen habe, den Armutsbericht nur noch alle fünf bis sechs Jahre zu veröffentlichen und nicht alle drei Jahre, so die Kreisgeschäftsführerin der Caritas. Denn wichtiger als eine Bestandsaufnahme sei es ohnehin, konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren. So sei beispielsweise ein "Netzwerk für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen im Landkreis Dachau" in Planung, das sich in verschiedene Arbeitsgruppen untergliedere. Von November an sollen die einzelnen Gruppen zu Themen wie Wohnen und Arbeitslosigkeit starten.

Vom sozialen Wandel - insbesondere von Wohnungsknappheit - betroffen seien Menschen praktisch jeder Schicht und Altersgruppe. "Es gibt kaum jemanden, der nicht tangiert ist", so Schaitl. Grundsätzlich müsse man aber zwischen der Stadt Dachau und den ländlicheren Regionen im Landkreis unterscheiden. Denn auch wenn der Landkreis relativ gesehen als reich gelte, so würden davon doch längst nicht alle Gemeinden und Einwohner profitieren, denn auch das Einkommen schwangt. Etwa zehn Prozent der Haushalte in Dachau und Karlsfeld verfügen über ein Einkommen unter 1100 Euro, in Markt Indersdorf sind es etwa fünf Prozent. In Haimhausen gibt es dagegen viele Gutverdiener. 30 Prozent der Haushalte haben dort ein Nettoeinkommen von 7500 Euro und mehr. "Die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe ist für Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen stark abhängig von der Region, in der man lebt", sagt Schaitl. Im S-Bahnbereich zu wohnen, ist deshalb zwar attraktiv, aber eben gleichzeitig für einen Großteil der Menschen kaum noch bezahlbar.

Im gesamten Landkreis werde die Teilhabe immer schwieriger. Als positives Zeichen wertet die Kreisgeschäftsführerin jedoch, dass der Armutsbericht vom Landratsamt selbst in Auftrag gegeben worden ist. Das Problem werde zumindest erkannt und entsprechend ernst genommen. Auch wenn der Landkreis im direkten Umkreis von München in einer seit Jahren wirtschaftlich prosperierenden Region mit einer guter Arbeitsmarktlage und geringer Arbeitslosenquote im Vergleich zu vielen anderen Regionen in Deutschland sei, "darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Thema Armut auch in unserem Landkreis Realität ist", sagt auch Landrat Stefan Löwl. Realität ist auch, dass viele Menschen im Landkreis Dachau nicht nur immer öfter von Wohnungslosigkeit bedroht, sondern tatsächlich davon betroffen sind - und es werden mehr. Einer der vielen Gründe: Immer häufiger wird Eigenbedarf angemeldet. "Möglicherweise kann man deshalb von einer Teilverdrängung sprechen", sagt Sozialamtsleiter Markus Haberl. In Zahlen äußere sich das wie folgt: So seien im Jahr 2010 49 Menschen im Landkreis Dachau obdachlos gemeldet gewesen, im Jahr 2017 sei die Zahl auf 148 gestiegen. Das mache gemessen an der Einwohnerzahl einen Anstieg von 0,2 Prozent, auch wenn die Zahlen schwanken. Und nicht nur das: In München seien 2016 0,33 Prozent der Menschen obdachlos gewesen, im Landkreis Dachau waren es 2017 bereits 0,31 Prozent, sagt Haberl. "Wir nähern uns Münchner Verhältnissen an."

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Quelle:
SZ vom 27.09.2019
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