Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Geschichten aus dem Dachauer Land:Von Bullen, Bikern und Bruchpiloten

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Der Absturz eines Ultraleichtflugzeugs hievt die Einöde Altstetten im Winter 2010 in die Schlagzeilen. Landwirt Rudolf Bichler stellt seine Wiese noch heute als Start- und Landebahn zur Verfügung. Nebenbei sammelt er historische Maschinen und beherbergt Motorradfahrer

Von Benjamin Emonts, Erdweg

"Flugzeugabsturz", so lautete der Notruf, der am Nachmittag des 5. Dezember 2010 abgesetzt wurde. Er klang dramatisch. Lebensbedrohlich. Am Unfallort in Altstetten landeten kurze Zeit später zwei Hubschrauber, massenweise Rettungswagen und Feuerwehrautos fuhren vor - das Technische Hilfswerk, das Rote Kreuz, sogar der Katastrophenschutz. Der Bruchpilot war da bereits relativ unversehrt aus seinem Wrack gestiegen - er hatte ein leichtes Schleudertrauma und einen kleinen Kratzer. Sein unsanft zu Boden gegangenes Flugzeug - das war ob des Trubels nicht ganz klar - war weder ein Jumbo noch ein anderes großes Flugobjekt. Es war ein Ultraleichtflugzeug. Das mediale Interesse nach dem Absturz war dennoch groß. Die Einöde Altstetten, die aus zwei Bauernhöfen besteht, geriet für einen Tag in die Schlagzeilen.

Natürlich ist der Flugzeugabsturz nicht der einzige Grund, weshalb es sich lohnt, das schöne Altstetten in der Gemeinde Erdweg näher vorzustellen. Eingekreist von den Ortschaften Oberroth, Welshofen und Wiedenzhausen liegt die Einöde malerisch zwischen Feldern, Wäldern und Wiesen, auf denen Bullen und Färsen weiden. Am Horizont erblickt man in einiger Entfernung den Kirchturm von Welshofen. Auf den zwei Bauernhöfen Altstettens, die durch eine Staatsstraße getrennt sind, leben zwei Familien mit vier Erwachsenen, fünf Kindern und etwa 120 Rindern, die frei entscheiden können, ob sie im Stall oder lieber draußen verweilen wollen. Die bayerische Soap "Dahoam is Dahoam", das kann als Kompliment durchgehen, hat hier schon mehrere Szenen gedreht.

Bichlers Rinder haben es sich im Schatten gemütlich gemacht.

Landwirt Rudolf Bichler.

Rindfleisch bietet er in seinem Hofladen an.

Mit dem Luftkissenboot brettern die Bichlers über die Wiesen.

Ihre Weideflächen teilen sich die Rinder mit einigen Flugbegeisterten, denen Landwirt Rudolf Bichler seit Mitte der Neunzigerjahre kostenlos Platz bietet. Ein Freund hatte ihn damals darum gebeten. Eine entsprechende Genehmigung war beim Landratsamt Dachau und dem Deutschen Luftfahrtamt schnell erwirkt. Bis heute dürfen die Flieger hier 80 Mal pro Jahr starten und landen. Die Ultraleichtflugzeuge stehen neben Strohballen in einer von Bichlers Hallen, der im Gegenzug manchmal als Co-Pilot mitfliegen darf. Der Bruchpilot von damals, der mit dem Schrecken davon kam, ward seit seinem Unfall nicht mehr gesehen auf dem privaten Flugplatz. Landwirt Bichler erzählt, dass er trotz eines Flugverbots bei Eis und Schnee damals gestartet sei. Bei der Landung passierte es dann. Seine Sturheit wurde dem Mann zum Verhängnis. Er fiel in Ungnade.

Eine der Attraktionen Altstettens ist Landwirt Rudi Bichler selbst. An diesem Vormittag rauscht er in einem amerikanischen Militärjeep, Typ Willys, Baujahr 1948, auf seinen Hof. An fahrbaren Untersätzen und historischen Maschinen besitzt Bichler so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann. Er sammelt und bastelt seit seinem zwölften Lebensjahr. An die Rückseite eines herkömmlichen Holzschlittens hat er einen Motor und einen großen Propeller montiert. "Das Teil läuft einwandfrei", sagt er und grinst. Wenige Meter weiter präsentiert er stolz ein Hovercraft, ein Luftkissenfahrzeug. Bichlers Kinder, zwölf und 13 Jahre alt, brettern damit, wann immer es geht, über die Wiesen auf dem Familienanwesen. "Es gibt kein vergleichbares Fahrgefühl, da schwebst du", schwärmt Bichler.

Der Mann hat viel erlebt in seinen 53 Lebensjahren, schönes wie unschönes. Letzteres hängt damit zusammen, dass Altstetten bis vor zwei Jahren die letzte Unfallmeldestelle im Landkreis Dachau war. Unfallmeldestellen waren besonders in den Siebziger- und Achtzigerjahren, als es noch keine Mobiltelefone gab, von großer Bedeutung. An Orten, an denen sich oft Unfälle ereigneten, wurden Notruftelefone eingerichtet, um schnellstmöglich den Rettungsdienst alarmieren zu können. Im Wald zwischen Altstetten und Wiedenzhausen, an der davor liegenden Steilkurve und an der Kreuzung nach Welshofen, krachte es häufig. Wenn Landwirt Bichler es mitbekam, setzte er sofort den Notruf ab und eilte als Ersthelfer zur Unfallstelle. Neben Wildunfällen und kleineren Blechschäden erlebte der 53-Jährige auch viele schwere Unfälle. "Manchen Menschen konnte ich nicht mehr helfen." Bichler, so schätzt er, war bei etwa 150 Unfällen zur Stelle. Vom BRK, bei dem er ehrenamtliches Mitglied ist, erhielt er eine Ausbildung, um in kritischen Situationen richtig zu handeln.

Im Januar 2013, das erzählt Bichler nur beiläufig, verlieh ihm der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer in der Münchner Residenz die Christophorus-Medaille, eine staatliche Auszeichnung für die Rettung von Menschen in Lebensgefahr. 200 Meter entfernt von Altstetten war ein damals 33-jähriger Autofahrer von der Straße abgekommen. Der Mann hatte sich mit seinem Wagen mehrfach überschlagen und war auf der Beifahrerseite im Steindlbach gelandet. Der Kopf des bewusstlosen Mannes war unter Wasser geraten, er war eingesperrt. Bichler, der mit seinem Motorrad einer der ersten an der Unfallstelle war, reagierte blitzschnell und holte von seinem Hof einen Gabelstapler, mit dem er das Auto aus dem Bach hob. Zwei Polizisten aus Fürstenfeldbruck, die mit am Unfallort waren, reanimierten den 33-Jährigen. Ohne Bichler hätte der heute querschnittsgelähmte Mann nicht überlebt. Und Altstetten geriet unfreiwillig erneut in den Fokus der Medien.

In Geschichtsbüchern fällt der Name Altstetten immer wieder in Zusammenhang mit der Schachermühle, die sich unweit der Einöde befand. Die Eltern des berüchtigten Räuber Kneißl hatten die Schachermühle im Jahr 1886 gekauft. In der Abgeschiedenheit des Waldes ging die Familie dort nicht nur der Müller- und Sägewerksarbeit nach, sondern verstärkt auch der Wilderei. Der junge Räuber Kneißl, damals 16 Jahre alt, erwies sich schnell als Meister der illegalen Jagd. Bichlers Großmutter, so erzählt der Landwirt, habe den Räuber Kneißl mehrmals des nachts von ihrem Fenster aus beobachtet. "Er war ein ganz normaler Junge, der keine andere Wahl hatte, als zu wildern", gibt Bichler nun die großmütterlichen Erzählungen wieder. "Er war ein Robin Hood der Neuzeit."

Keine Wilderer, dafür aber wild aussehende Rocker kommen mit ihren Motorrädern, zum Großteil natürlich Harleys, alljährlich im Mai nach Altstetten. Der Motorradclub Chaindogs MC, denen einer von Bichlers Brüdern angehört, veranstaltet auf seinen Wiesen seit Anfang der Achtzigerjahre ein zweitägiges Festival. Die 300 bis 400 Biker kommen aus ganz Bayern und sogar aus Holland. Sie trinken, grillen, zelten und präsentieren ihre Harleys. Die Rinder von Landwirt Bichler nehmen das, ebenso wie die Starts und Landungen der Ultraleichtflugzeuge, stoisch zur Kenntnis. In Altstetten - das wissen sie wohl - ist eben immer etwas geboten.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2016
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