Süddeutsche Zeitung

Petition gegen Abschiebung:Schule mit Rückgrat

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Seit die Familie Esiovwa aus Karlsfeld nach Nigeria abgeschoben wurde, ist der Platz der elfjährigen Stefanie an der Karlsfelder Mittelschule leer. Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen haben nun eine Petition gestartet, um die Familie wieder zurückzuholen.

Von Ayça Balcı, Karlsfeld

Wenn Mitschüler und Freunde von einem Tag auf den anderen verschwinden, dann macht das etwas mit Kindern. Es ist fast ein halbes Jahr her, seit die elfjährige Stefanie Esiovwa plötzlich nicht mehr zur Schule kam. Dass sie mit ihrer Familie abgeschoben wurde, wussten ihre Mitschülerinnen und Mitschüler an der Mittelschule in Karlsfeld damals noch nicht. "Wir haben erst nach einer Woche erfahren, warum Stefanie nicht mehr in den Unterricht kommt und waren alle geschockt, dass sie jetzt weg ist", berichtet Barbara Lauterbach. Sie ist Lehrerin an der Mittelschule und die Koordinatorin der "Schülermitverantwortung" (SMV).

In der Nacht des 12. Juli wurde die fünfköpfige Familie Esiovwa aus Karlsfeld in ihrer Wohnung abgeholt und nach Nigeria abgeschoben. Seitdem sind viele Fragen offen, vor allem aber diese: Hätte die Familie mit zwei kranken Elternteilen und einem Sohn, der mit einer Behinderung lebt, überhaupt abgeschoben werden dürfen? Die Seebrücke und die Helferkreise im Landkreis Dachau versuchen seit Monaten, die Hintergründe der Abschiebung aufzuklären, beklagen jedoch eine Intransparenz seitens der Behörden.

"Stefanie war früher in meiner Klasse", erzählt Schamon. Er besucht die sechste Klasse der Mittelschule. "Es ist schrecklich, dass jemand von unserer Schule abgeschoben wurde, und wir wollten etwas dagegen unternehmen." Schon auf dem Sommerfest sammelten Schamon und seine Mitschüler etwa 200 Unterschriften für die Rückkehr der Familie Esiovwa. Um tatsächlich etwas bewirken zu können, waren das noch zu wenige. In diesem Schuljahr kam der SMV die Idee, eine Online-Petition zu starten, um noch mehr Menschen zu erreichen. Dem Vorhaben schloss sich auch die Neuntklässlerin Emma an, denn sie findet: "Das geht nicht. Man kann nicht einfach Leute abschieben." In der Petition bitten sie den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und den Dachauer Landrat Stefan Löwl (CSU), das Asylverfahren noch einmal zu prüfen, der Familie Esiovwa ein humanitäres Visum zu erteilen und sie zurück nach Karlsfeld zu holen.

Die Petition soll auch anderen helfen, die von einer Abschiebung bedroht sind

Auch wenn Petitionen rein rechtlich wenig helfen würden, hält es Martin Modlinger von der Seebrücke Dachau für sehr wichtig, dass die Schüler der Karlsfelder Mittelschule die Initiative ergreifen. "Denn der Druck, den Petitionen aufbauen, der verändert sehr oft etwas", sagt Modlinger, der zu den ersten Unterzeichnern der Petition gehört. Ob der Fall letztlich vom bayerischen Innenminister und dem Dachauer Landrat ergebnisoffen geprüft werde, sei zwar eine andere Frage, aber der Schritt sei ein wichtiger.

"Der Fall muss im öffentlichen Bewusstsein gehalten werden und das macht die Aktion der SMV", so Modlinger. Der Ortsvorsitzende der Dachauer Grünen hält die Petition auch noch aus einem anderen Grund für wichtig: Im Landkreis gebe es noch viele andere Familien, die prinzipiell auch von einer Abschiebung bedroht sein könnten. Die Petition der Karlsfelder Schüler könne und solle also nicht nur der Familie Esiovwa sondern auch anderen Betroffenen langfristig helfen.

Die Mittelschule Karlsfeld ist im Landkreis Dachau eine Modellschule für demokratische Orientierung - sie setzt Projekte um, die Kindern und Jugendlichen politische Teilhabe und Mitbestimmung näherbringen sollen. "Die Petition ist letztlich auch ein Instrument, um an dieser Demokratie teilzuhaben und in den Dialog zu gehen", erklärt Hakan Özcan, Rektor der Mittelschule Karlsfeld. Nach der Abschiebung der Familie Esiovwa wurde in den Klassenzimmern darüber gesprochen, was es überhaupt bedeutet, abgeschoben zu werden. "Wir haben das Thema für die Schüler eingeordnet, zumindest unter dem rechtlichen Aspekt", so Özcan. Unter dem "humanitären Aspekt" habe man den Fall der Familie Esiovwa den Kindern aber nicht erklären können. "Zum Beispiel, warum diese Abschiebung nachts stattfinden musste, vor allem wenn Kinder dabei waren. Da bleibt Unverständnis."

"Die Bildungsperspektive ist für die Kinder in Nigeria sehr finster."

Seit Kurzem besuchen Stefanie Esiovwa und ihre Geschwister eine Schule im Niger-Delta. "Die Bildungsperspektive ist für die Kinder in Nigeria sehr finster", sagt Julie Richardson vom Kinderschutz München. Sie hat Gabriel, den Sohn der Familie Esiovwa, betreut und steht auch heute noch in Kontakt mit ihnen. In Nigeria würden die Kinder nun ein schulisches Umfeld erleben, das sie aus Deutschland nicht gewohnt seien. "Der Kulturschock ist groß", so Richardson.

Die zwei älteren Kinder sind im Kleinkindalter nach Deutschland gekommen, die Jüngste ist in Deutschland geboren. "Sie kennen also gar nichts anderes und sind hier sozialisiert." Außerdem stelle sich die Frage, wie lange die Kinder überhaupt noch zur Schule gehen könnten, beziehungsweise wie lange sich die Familie die Schulbildung ihrer drei Kinder noch leisten könne. Denn sowohl Bildung als auch ärztliche Versorgung sind in Nigeria kostenpflichtig.

Der kranke Vater, dem es gesundheitlich zunehmend schlechter gehe, könne am neuen Wohnort keine Arbeit finden, berichtet die Kinderpsychologin. In Deutschland hatte Nicolas Esiovwa einen festen Arbeitsplatz, auch sein Arbeitgeber wollte ihn weiter beschäftigen, hätten ihm die Behörden nicht die Aufenthaltsduldung und damit die Arbeitserlaubnis entzogen. "Es ist insgesamt widersprüchlich, Menschen abzuschieben, die sich hier wunderbar einbringen", findet Richardson und ist sich sicher: "Alle Kinder der Esiovwas hätten ihren Platz in dieser Gesellschaft gefunden."

Vonseiten der Behörden mangelt es der Kinderpsychologin an Engagement, den Fall aufzuklären, sie hofft deshalb auf viele Unterzeichnungen der Petition - und damit ist sie nicht allein: Zahlreiche Dachauer Ortsverbände und Vereine sowie der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi unterstützen die Karlsfelder Schülerinnen und Schüler in ihrem Vorhaben.

Die Petition ist unter dem Link https://www.openpetition.de/petition/online/holt-stefanie-zurueck abrufbar.

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