Süddeutsche Zeitung

"SS-Schießplatz Hebertshausen":Nichts erinnert, nichts gelernt

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Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ist immer noch eine Leerstelle im kollektiven Gedächtnis. Das wird beim Gedenken an die ermordeten Rotarmisten in Dachau deutlich und in den Erzählungen des ukrainischen Historikers Boris Zabarko.

Von Helmut Zeller, Hebertshausen

"Offene Wunden Osteuropas" hat die Historikerin Katja Makhotina ihr neues Buch genannt, das sie zusammen mit ihrer Kollegin Franziska Davies geschrieben hat. Jetzt spricht Makhotina, die 1982 in Sankt Petersburg geboren wurde und an der Universität Bonn lehrt, auf dem ehemaligen "SS-Schießplatz Hebertshausen" - eine der unzähligen offenen Wunden aus dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Länder der Sowjetunion. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden hier von September bis Juni 1942 mehr als 4000 kriegsgefangene Rotarmisten von der SS brutal ermordet. "Wir können nicht einmal annäherungsweise nachvollziehen, was diese Menschen durchmachen mussten", sagt die Osteuropa-Historikerin. "Ich stand nackt, zitternd vor Kälte und Angst, vor der Mauer", zitiert sie aus den Erinnerungen eines der Handvoll Überlebenden: Moisej Temkin aus dem heutigen Belarus, der Minuten vor der Erschießung herausgenommen und ins Kriegsgefangenenlager im KZ Dachau gebracht wurde. Vermutlich hatte die Lager-SS seine jüdische Herkunft, wegen der er von der Wehrmacht ausgesondert worden war, übersehen. Mehr als drei Millionen von 7, 5 Millionen sowjetischen Soldaten überlebten die Kriegsgefangenschaft nicht - sie wurden erschossen oder starben an systematischer Unterernährung und Krankheiten.

Eine Leerstelle im kollektiven Gedächtnis

Nach Kriegsende, Temkin hatte Dachau, Mauthausen, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt, kehrte er in sein Heimatdorf zurück. Sein Vater war mit mehr als 1000 Jüdinnen und Juden bei einem Massaker ermordet worden. Plünderungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Tötungen - am Ende zählte die Sowjetunion 27 Millionen Todesopfer, die meisten waren Zivilisten. "Es war ein präzedenzloser Raub- und Vernichtungskrieg, in dem ganzen Bevölkerungsgruppen das Recht auf Leben abgesprochen wurde." Das Todesurteil für Slawen, die für die Nazis "Untermenschen" waren, stand schon vor Kriegsbeginn fest - und für Jüdinnen und Juden, deren völlige Auslöschung in den besetzten Gebieten mit Hilfe einer "von Hass und Entmenschlichung bestimmten Wehrmacht" betrieben wurde. Makhotina betont, dass dieser Krieg nach 81 Jahren noch immer "eine Leerstelle im deutschen kollektiven Gedächtnis" ist. Auch nach der Wehrmachtsausstellung von 1995, die mit der Legende von der "sauberen Wehrmacht" aufgeräumt hatte - gegen wütenden Protest aus Politik und Gesellschaft, gerade auch im nahe gelegenen München. Das CSU-Blatt Bayernkurier verfemte die Ausstellung als einen "moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk". Es ist auch schmerzhaft, wie Makhotina sagt, denn die Anerkennung eines nie dagewesenen Vernichtungskrieges als deutsches Verbrechen wirft Fragen nach der Verstrickung der eigenen Familien auf.

Fast vergessene Erinnerungsorte

Die Erinnerungsorte, die Makhotina und Davies, Historikerin an der LMU München, für ihre Buchrecherchen in Belarus, Russland und der Ukraine aufsuchten, waren lange Zeit vergessen. "Die Mehrzahl der Orte sind noch heute keine Gedenkstätten", sagt Makhotina. So war es auch mit dem "SS-Schießplatz". Der Ort verfiel und wäre fast vergessen worden, wenn nicht zivilgesellschaftliche Organisationen daran erinnert hätten. Der Förderverein Internationale Jugendbegegnung etwa, der jedes Jahr die Gedenkfeier zum 22. Juni 1941 veranstaltet. Erst 2014 wurde der Ort als Gedenkstätte gestaltet - Moisej Temkin lebte da schon nicht mehr, er war 2006 in Israel gestorben. Barbara Distel, von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, sagt später: "Ich finde es traurig." Sie ist enttäuscht, dass nur 30 bis 40 Besucher gekommen sind und gerade in der Politik das Bewusstsein für die Bedeutung dieses Ortes offenbar nur schwach ausgeprägt ist. Die stellvertretende Landrätin Marese Hoffmann und der Stadtratsreferent für Zeitgeschichte, Richard Seidl (beide Grüne), nehmen teil. Mehr nicht. Der Theresienstadt-Überlebende Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, und der Historiker Boris Zabarko aus Kiew legen rote Nelken auf das Mahnmal. Als Kind entkam er dem Ghetto von Scharhorod. Der 86 Jahre alte Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden ist Anfang März mit seiner Enkelin aus der Ukraine nach Stuttgart geflohen.

Im Anschluss an die Gedenkfeier spricht er in der Kulturschranne in der Dachauer Altstadt über seine Arbeit und präsentiert sein Buch "Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden". 1,5 Millionen ukrainischer Juden wurden ermordet. Der Historiker Wolfgang Benz verglich das Werk in seiner Monumentalität mit Claude Lanzmanns Film "Shoah" - und rasch wird den Zuhörern klar: Sie lauschen einem der Großen der Historikerzunft, der ähnlich wie Saul Friedländer in seinem Werk die jüdischen Stimmen zu Gehör bringt. Zwar gebe es in Deutschland, sagt Zabarko, jede Menge Publikationen über die NS-Verbrechen, aber kaum welche darüber, wie die Menschen, die verfolgt und getötet wurden, sich gefühlt haben, welchen Blick sie auf die Shoah haben. Als einer der ersten erforschte er systematisch das Schicksal der Juden unter der deutschen Besatzung. Seit mehr als 20 Jahren sammelt er Berichte Überlebender in der ganzen Ukraine. "Manche waren froh zu sprechen, andere wollten nicht. Die Menschen haben geweint, manche wurden ohnmächtig, und ich musste den Notarzt rufen. Auf manchen Briefen an mich konnte ich die Flecken getrockneter Tränen erkennen." In der Sowjetunion war der Massenmord an den Juden ein tabuisiertes Thema, das Quellenstudium war dadurch erschwert, dass viele Archive geschlossen waren, aber auch nach ihrem Zusammenbruch musste Zabarko erkennen, dass das Interesse an der Shoah in der unabhängigen Ukraine nicht eben groß war, auch nicht unter Akademikern. Es habe Stimmen gegeben, die einwandten, "wir haben unsere eigene Tragödie, den Holodomor". Zabarko sagt: "Es ist eine Tragödie. Wir haben kein Holocaust-Museum in Kiew, bis heute keine ausgebaute Gedenkstätte in Babyn Jar." In dieser Schlucht bei Kiew erschossen am 29. und 30. September 1941 deutsche Polizisten, SS-Männer und Wehrmachtsangehörige zusammen mit ukrainischen Kollaborateuren mehr als 33 000 jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es war das größte Einzelmassaker im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden. Etwa 200 Bücher und Artikel hat Zabarko geschrieben - und doch wirft er sich vor, nicht viel früher mit seiner Arbeit begonnen zu haben.

"Auch heute erleben wir eine furchtbare Katastrophe", sagt Zabarko über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Ein bitteres Resümee: "Die Menschen haben nicht aus dem Holocaust und den beiden Weltkriegen gelernt." Makhotina hatte auf der Gedenkfeier noch erklärt, dass "wir Nachgeborenen die Überlebenden enttäuscht" und die Forderung des "Nie wieder" ausgehöhlt hätten. Jetzt sagt Zabarko: "Für mich als Überlebenden ist es sehr schwer zu ertragen, dass wir den Krieg nicht verhindern konnten." Makhotina findet das "herzzerreißend". Das ist es auch.

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