Süddeutsche Zeitung

Zeitzeuge über Kriegsende 1945:"So etwas kann man nicht vergessen"

Lesezeit: 4 min

Georg Stefan Troller, 98, erzählt im Dachauer Rathaus, was er als US-Soldat kurz nach der Befreiung im KZ sah - und sich wie die Bevölkerung unwissend gab.

Von Walter Gierlich, Dachau

Lange vor Beginn der Veranstaltung um 19 Uhr müssen zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden, doch es reicht dann bei Weitem immer noch nicht. So verfolgen zahlreiche Besucher das Zeitzeugengespräch mit dem Schriftsteller, Fernsehjournalisten, Regisseur und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Foyer des Dachauer Rathauses im Stehen. Der Andrang ist kein Wunder, nennt doch Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) den 98-Jährigen in seiner Begrüßung einen "veritablen Jahrhundertmenschen".

Nicht nur Dachauer wollen hören, was Troller zu sagen hat, der als US-Soldat 1945 an der Befreiung Münchens beteiligt war und seit den Sechzigern mit seinem "Pariser Journal" und seinen Interviews zu einer Legende und zu einem Vorbild für zahlreiche nachfolgende Journalisten wurde. Unter den zahlreichen auswärtigen Besuchern befinden sich auch die Schauspielerin Senta Berger und ihr Mann Michael Verhoeven, enge Freunde Trollers.

Troller, als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers 1921 in Wien geboren, erzählt im Gespräch mit Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, wie der Antisemitismus in Österreich lange vor dem Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 sehr verbreitet war. Als Jude sei man auf der Straße schon in den Zwanzigerjahren auf der Straße angespuckt und angerempelt worden.

Dass er auch im hohen Alter noch Profi in der Gesprächskunst ist, macht er mit einer Anekdote deutlich, die die Zuhörer trotz des ernsten Hintergrunds zum Lachen bringt: Die Mutter habe ihm und seinem Bruder zu einer Eislauf-Faschingsveranstaltung ausgerechnet Schottenröckchen angezogen, worauf ein Mann gerufen habe: "Schaut's euch die zwa Juden an, die glaabn, dass Weiber san."

Angesichts solcher Kindheitserfahrungen betont Troller, dass er schon damals nicht zu einer verfolgten Minderheit gehören wollte. "Mein Traum war, anerkannt zu sein, geliebt zu werden und nicht auf meine Abstammung oder Religion reduziert zu werden."

Vor dem Kampf gegen die Nazis stand ein Jahr Kartoffelschälen

Nach dem Anschluss im Frühjahr 1938 hätten viele junge Juden vorausschauend in Berufe gedrängt, mit denen man auch im Exil seinen Lebensunterhalt bestreiten können würde. Er hat also Buchbinder gelernt und das Handwerk später tatsächlich in seinen Zufluchtsländern ausgeübt. Nach der Pogromnacht, in der er sich bei seinem Ausbilder, "einem alten Sozi", versteckte, floh er mit 16 Jahren über die Grenze nach Brünn in der Tschechoslowakei.

Mit einem gefälschten Visum gelangte er nach Frankreich, wo er aber nach Kriegsausbruch als unerwünschter Ausländer interniert wurde. Ironischerweise habe der Einmarsch der deutschen Wehrmacht die Befreiung aus dem Internierungslager gebracht. Er hat dann in Marseille mit viel Glück und nach tage- und nächtelangem Schlangestehen vor dem amerikanischen Konsulat ein Visum für die USA erhalten und ist 1941 dort angekommen. Auch den Eltern gelang die Flucht in die Vereinigten Staaten.

1943 ist Troller zwar zur Army eingezogen worden, hat aber, wie er unter dem Gelächter des Publikums erzählt, zunächst wegen eines dummen Witzes "ein Jahr lang Kartoffeln im Ausbildungscamp schälen müssen, statt in Europa gegen die Nazis zu kämpfen".

Über Nordafrika, Italien, Frankreich kämpfte sich schließlich die Truppe, der Troller angehörte, nach Deutschland vor, wo er am 1. Mai 1945 an der Befreiung Münchens beteiligt war. Troller war Vernehmungsoffizier: "Die Grundlage meiner Interview-Technik habe ich da gelernt. Mit dem Gegenüber von Gleich zu Gleich zu sprechen, nur so funktioniert Interview."

Zwei, drei Tage nach der Befreiung besucht er das Konzentrationslager Dachau: "Es war furchtbar, es war entsetzlich. Die Überlebenden waren bereits woanders hingebracht worden, nur die Toten waren noch da. Die lagen zu Hunderten da herum auf dem Appellplatz." Und auch den Zug voller Leichen sieht er, "nur noch Skelette mit gelber Haut überzogen". Er machte viele Fotos, die er später dem Archiv der KZ-Gedenkstätte schickte.

Heute nennt er das Bildermachen einen Versuch, mit der Situation fertigzuwerden: "Dinge, die einem unerträglich sind, kann man wegfotografieren." Troller hat sich ins Gedächtnis eingebrannt, was er in Dachau zu sehen bekam: "So etwas kann man nicht vergessen, denn ohne die Gnade Gottes würdest jetzt du da liegen, habe ich gedacht, und ein US-Soldat würde dich knipsen."

"Das Wort Befreiung habe ich damals nie gehört"

Als die Army Dachauer Bürger ins Lager brachte, damit sie sehen mussten, was dort geschehen war, sagten alle, sie hätten davon nichts gewusst, nie etwas davon gehört. Eine Frau habe angesichts des Grauens sogar gesagt: "Das hättet ihr uns nicht auch noch antun müssen." Diese Haltung des angeblichen Nichtwissens hat Georg Stefan Troller nicht nur in Dachau beobachtet.

Die Bevölkerung habe alle Verbrechen abgestritten oder in Relation zu den Bombardierungen gesetzt. Alle hätten behauptet, immer schon dagegen gewesen zu sein. Besonders verbreitet sei der Spruch gewesen: "Leider hat der Führer nichts davon gewusst." Sonst hätte er all diese schrecklichen Sachen natürlich verhindert.

Sogar bei manchen GIs hätten diese Sprüche verfangen - "besonders wenn sie von 'Frauleins' kamen", sagt Troller. Er erinnert sich zudem: "Das Wort Befreiung habe ich damals nie gehört, es war immer nur die Rede von Zusammenbruch oder Untergang."

Er sei in gewisser Weise Gründungsmitglied des Bayerischen Rundfunks gewesen, ehemals Radio München. Das Programm wurde von den Deutschen als Umerziehung empfunden, "bei den Menschen angekommen ist lediglich die flotte amerikanische Musik", die man bis dahin nicht gekannt hatte. Das Naziregime sei in der Bevölkerung mit dem Krieg gleichgesetzt worden, den angeblich niemand gewollt habe. Die Jahre von 1933 bis 1939 hat man, so Troller, ausgeblendet.

Dann ist nach mehr als einer Stunde Schluss und die Besucher im Foyer des Dachauer Rathauses erheben sich zu lang anhaltendem Applaus für den wunderbaren, humorvollen Rhetoriker, dem keiner seine 98 Jahre anmerkt.

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Quelle:
SZ vom 29.01.2020
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