Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:"Die Schere geht weiter auseinander"

Lesezeit: 4 min

Kinder aus Familien mit geringem Einkommen hatten es im deutschen Bildungssystem schon immer schwer. Doch die Pandemie hat diese Ungleichheiten im Landkreis Dachau verschärft. Das hat Auswirkungen auf den gesamten Lebenslauf der Kinder. Der SZ-Adventskalender hilft.

Von Eva Waltl, Dachau

Seit knapp zwei Jahren leben Kinder unter erschwerten Umständen: Sozialer Kontakt, Freizeitaktivitäten, Schule und Kindergartenbetreuung sind stellenweise ganz ausgefallen oder nur eingeschränkt möglich. Die Auswirkungen der Pandemie betreffen alle Kinder, ausnahmslos. Es sind die Schwächsten der Gesellschaft, die unter den Folgen langfristig wohl am meisten zu leiden haben. Fachstellen im Landkreis Dachau, die mit einkommensschwachen Familien zu tun haben, zeichnen ein Bild von Vereinsamung, Bewegungsmangel und Bildungsdefiziten bis hin zu ernsthaften psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Arbeit von Sozialarbeitern ist während der Zeit der Lockdowns und Restriktionen wertvoller und wichtiger denn je - aber auch beschwerlicher. Der "SZ-Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung" leistet seit vielen Jahren Hilfe. Er will Kindern aus armen Familien wieder eine Chance geben.

Karin Reichlmeier vom Amper e.V. in Dachau arbeitet bereits seit mehr als 30 Jahren als Sozialpädagogin. Seit Beginn der Coronapandemie bietet sie gemeinsam mit ihrem Team eine Anlaufstelle für mittellose Familien an. "Es war für mich von Beginn der Pandemie an klar, dass es wieder ein Armutsthema wird", sagt sie. Die Gründe dafür seien vielfältig. Armen Familien fehle oft eine grundlegende finanzielle Rücklage, Extraausgaben müssten genau kalkuliert, gut überlegt, organisiert und abgewogen werden und seien mitunter in besonders kargen Zeiten nicht anders zu bewältigen gewesen als durch Spenden, sagt Reichlmeier. Wenn dann noch Kurzarbeit hinzukommt oder der 450-Euro-Job komplett wegfällt, stehen diese Familien mit dem Rücken zur Wand, und existenziell notwendiges Geld fehlt. Das Geld fehlt in einer Zeit, die wegen Schulschließungen und Homeschooling-Konzept ohnehin mehr Ausgaben von Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder fordert. "Als die Schule ausfiel, mussten die Familien selbst für das Mittagessen der Kinder aufkommen, das allein schlägt schon gewaltig zu Buche", sagt die Sozialpädagogin. Auch die Anschaffung teurer Elektronikgeräte für den Distanzunterricht auszustatten, damit die Kinder bei den Lerninhalten noch mitkommen, habe bei vielen Familien eine große Lücke verursacht. Zwar hat es vom Landkreis Unterstützung gegeben, die laufenden Kosten für die Familien seien aber enorm gestiegen, berichtet Reichlmeier: "Ich habe von Müttern gehört, dass gewaltige Kosten allein für das Ausdrucken von Arbeitsmaterial anfielen." Eine finanzielle Lücke, die auch nach Rückkehr zu Präsenzunterricht noch immer schwer zu füllen ist.

"Es ist leider die harte Realität"

Aber nicht nur die finanziellen Herausforderungen in den ärmeren Familien sind für diese Kinder eine Erschwernis während der Pandemie geworden, auch das Lernen in den eigenen vier Wänden während der Schulschließungen konnten sie weniger gut meistern. "Hier geht die Schere noch weiter auseinander", so Reichlmeier. Zwar hätten alle Kinder unabhängig von der sozialen Schicht sehr unter dem Homeschooling gelitten, bei sozial schwächeren Kindern würden sich aber - vor allem wenn von Seiten der Eltern keine entsprechende Betreuung möglich war, weil es deren akademische Bildung schlicht nicht ermöglicht - deutliche Bildungsdefizite abzeichnen, die auch langfristig die Chancen der Kinder beeinflussen: Kinder aus armen Familien bleiben auf der Strecke. Das bestätigt auch Helmut Piller, Kinder- und Jugendpsychotherapeut in Dachau. Schon allein die räumliche Gegebenheit könne ein maßgeblicher Grund sein, dass es zu Lernlücken komme: Kinder müssen sich Endgeräte und Zimmer teilen. Ein ruhiges, konzentriertes Lernen ist hier nur schwer möglich. Da hätten es einkommensstarke Familie leichter, sagt Piller. Er schildert den Fall einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern mit wenig Geld: "Da ist auf engstem Raum den ganzen Tag Rambazamba. Man kann als Mutter die Betreuung einfach nicht mehr bändigen." Die Folgen: Den Kindern fehlt das in der Schule geforderte Wissen, schlechte Noten prasseln auf sie ein, und ein Übertritt auf Realschule oder Gymnasium wird für die Kinder deutlich erschwert oder unmöglich. Wie gravierend die Auswirkungen hier tatsächlich sind, werde sich aber erst im kommenden Halbjahr zeigen, so Piller. Eine alarmierende Prognose wagt er aber jetzt schon: "Es ist leider die harte Realität, dass diese Zeit auf den gesamten Lebenslauf der betroffenen Kinder Auswirkungen hat."

Neben dem Bildungsdefizit sehen Piller und Reichlmeier weiter den stark gestiegenen Medienkonsum als ernsthaftes Problem an. Wenn Spielen mit Freunden untersagt ist, stellt der Computer einen einfachen und schnellen Ersatz dar. Ausreichende Kontrollen und entsprechende Regulierungen durch die Eltern seien beim Medienkonsum, wenn bloß beschränkt oder in manchen Fällen auch gar nicht möglich. Die Kinder gerieten schnell in ein Suchtverhalten. Reichlmeier hat besonders unter Zehn- bis 14-Jährigen festgestellt, dass sich die neue Gewohnheit entwickelt, mehr Zeit vor Computer und Fernseher zu verbringen. Diese Gewohnheit wieder zu ändern, Kinder für andere Aktivitäten zu animieren, nachdem der Computer über einen langen Zeitraum allgegenwärtig war, werde für Eltern und auch Sozialarbeiter fortan zu einer extremen Herausforderung werden, warnt Reichlmeier,.

Es ist ein Teufelskreis. Die Stimmung in den betroffenen Familien ist angespannt. Viele Eltern geraten mit der Doppelbelastung Arbeit und Kinderbetreuung an eine Grenze. Hier würden erneut einkommensschwache Familien den Kürzeren ziehen, erklärt Reichlmeier, denn Konflikte seien auf engerem Raum schwerer zu entzerren: "Natürlich liegen dann öfter die Nerven blank, Eltern sind schneller gereizt und lauter." Von Fällen verbaler oder physischer Gewalt kann sie bei den von ihr betreuten Familien aber nicht berichten - was aber auch daran liegen könnte, dass sie "nicht alles, was hinter verschlossenen Türen passiert", kontrollieren kann.

Kinder aus armen Familien haben also oft das Nachsehen und zahlen einen hohen Preis. Aber nicht nur sie: Reichlmeier spricht auch von einer "Luxusverwahrlosung", die sie festgestellt habe: Die Zugänglichkeit zu allerlei materiellen Gütern in Hülle und Fülle sei kein Garant dafür, dass das Kind eine gute Betreuung erfährt und entsprechend einfacher die Hürden meistern kann. "Familien, die in Hartz IV leben, können das Kind liebevoller betreuen als Familien mit uneingeschränkten finanziellen Mitteln, die das Kind überwiegend in das Zimmer abschieben", sagt Reichlmeier. Auf ein endgültiges Urteil will sie sich aber nicht festlegen, sie könne nur von ihren persönlichen Erfahrungen mit den Betroffenen sprechen. Man müsse Langzeitstudien abwarten, um ein konkretes, umfassendes Bild zu zeichnen.

Ein Hoffnungsschimmer hat sich für Karin Reichlmeier im Laufe ihrer Tätigkeit dennoch abgezeichnet: Der Kontakt innerhalb der Familien ist intensiver geworden. Ärmere Familien, die sie betreut, hätten viel Zeit gemeinsam in der Natur verbracht und konnten dadurch wieder zueinanderfinden und intensivere Gespräche führen. Zwar sollte dafür nicht erst unbedingt eine Pandemiesituation eintreten müssen, ein positiver Effekt sei es während all der negativen Folgen aber doch, findet Reichlmeier: "Ich will es nicht romantisieren, aber unsere Familien haben die Situation insgesamt gar nicht so schlecht gemeistert."

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Quelle:
SZ vom 27.11.2021
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