Süddeutsche Zeitung

Aus dem Gericht:Schwierige Wahrheitsfindung

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Eine 19-Jährige beschuldigt den Ex-Freund ihrer Mutter, sie als Kind unsittlich berührt zu haben. Der Mann streitet das ab

Von Jacqueline Lang, Dachau

Die Tat, die der Angeklagte begangen haben soll, liegt schon acht oder neun Jahre zurück, doch der Vorwurf wiegt schwer. Er lautet auf sexuellen Missbrauch an Kindern und ist damit noch lange nicht verjährt: 2012 oder 2013 - so genau kann sich die Geschädigte daran nicht mehr erinnern - soll er die Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin im Intimbereich berührt haben, als diese schlief. Das Mädchen war damals gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt. Noch bei einer Vernehmung bei der Polizei im Jahr 2018 hatte der Karlsfelder behauptet, es sei vielmehr so gewesen, dass das Mädchen ihm Avancen gemacht habe. Vor dem Amtsgericht schweigt der Mann nun zu den Vorwürfen und lässt lediglich durch seine Verteidigerin erklären, dass er die Tat nicht begangen habe.

Richter Christian Calame kann sich allerdings keinen Grund vorstellen, warum sich die Geschädigte die Geschichte nach all der Zeit ausdenken sollte. Er rät dem Angeklagten deshalb dringend dazu, "die Karten auf den Tisch zu legen und zu sagen, was da los war". Der 48-Jährige bleibt jedoch auch nach einer Besprechung mit seiner Verteidigerin dabei, dass die Geschichte nicht stimme. Bislang stehen also Aussage gegen Aussage. Calame hat die Verhandlung daher unterbrochen, um einen erneuten Versuch zu starten, die Mutter der Geschädigten vorzuladen und zu dem Fall zu befragen - in der Hoffnung, dass sie zur Klärung des Falls beitragen kann. Bei einer polizeilichen Vernehmung hatte diese noch die Schilderungen ihres angeklagten Ex-Freundes unterstützt.

Die Geschädigte wurde bereits im Vorfeld der Verhandlung befragt. Ein Video des Gesprächs spielt Richter Calame im Gerichtssaal vor. Die Tatsache, dass ihre Mutter ihre Version nicht bestätigt, sondern vielmehr bestreitet, kommentiert die heute 19-Jährige mit den Worten: "Das war so klar." Seit sie 14 Jahre alt ist, lebt die Bäckereiangestellte, genauso wie ihre Geschwister, nicht mehr bei der Mutter und hat auch keinen Kontakt mehr zu ihr. Schon in der Tatnacht, so schildert die Geschädigte, habe ihre Mutter nicht dem beschuldigten Freund Vorwürfe gemacht, sondern ihr.

Bei ihrer Vernehmung erzählt die junge Frau, dass sie mit dem Erlebten lange nicht habe abschließen können. Durch einen Vorfall auf einer Klassenfahrt, den sie nicht näher ausführen will, weil sie, wie sie sagt, nicht möchte, dass der Angeklagte davon erfährt, sei alles wieder hochgekommen. Deshalb sei sie schließlich zur Polizei gegangen. In jener Nacht vor acht oder neun Jahren hätten sie alle - ihre Mutter und ihre drei Geschwister - bei dem Angeklagten in seiner Ein-Zimmer-Wohnung übernachtet: die Mutter und der Angeklagte im Bett, sie und ihr Bruder oder ihre Schwester auf der Matratze direkt neben dem Bett, die übrigen Geschwister auf einer Ausziehcouch. Der Angeklagte habe Sex mit der Mutter haben wollen. Diese habe dies jedoch nicht gewollt, weil sie ihr Periode gehabt habe. Vom Bett aus habe der Angeklagte, als die damals noch Minderjährige schon geschlafen habe, dann ihren Intimbereich berührt. Ob unter oder über der Unterhose, darüber gehen ihre Aussagen bei mehreren Befragungen, die Richter Calame teilweise verliest, auseinander.

Als sie davon aufgewacht sei und ihm gesagt habe, er solle aufhören, habe er von ihr abgelassen. Daraufhin sei die Mutter aufgewacht und habe nicht ihren damaligen Lebensgefährten, sondern sie beschuldigt, die Tat provoziert zu haben. Sie sei daraufhin kurz ins Bad, danach seien alle wieder eingeschlafen. Über das Geschehene noch einmal geredet habe sie danach weder mit der Mutter noch mit dem Angeklagten. Auf die Fragen, wie das Verhältnis zu ihrer Mutter vor und nach der Tat gewesen und ob in ihrer Kindheit auch sonst viel schief gelaufen sei, sagt die Geschädigte nur trocken: "Ja, das kann man so sagen."

Richter Calame sagt, dass der Strafrahmen für den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen groß sei und der Angeklagte durch ein Geständnis die Chance habe, "Pluspunkte zu sammeln". Der Angeklagte, der laut seiner Verteidigerin unter den Anschuldigungen leidet, sagt am Ende jedoch nur, dass er nichts gestehen könne, was er nicht getan habe.

Die Verhandlung wird am Dienstag, 2. November, um 9 Uhr am Amtsgericht Dachau fortgesetzt.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2021
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