Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:"Wir sind die Randgruppe der Randgruppe"

Lesezeit: 3 min

Wenn das Kind behindert und besonders pflegebedürftig ist, stoßen Alleinerziehende schnell an die Grenzen des Zumutbaren. Hinzu kommt die ständige Angst vor einer Erkrankung.

Von Simon Wörz

Wenn Christina Huber über den ersten Corona-Lockdown vor mehr als einem Jahr spricht, klingt sie selbst etwas überrascht. Überrascht von ihren eigenen Kraftreserven, überrascht von der eigenen Belastungsfähigkeit. "Ein Wahnsinn" seien die zehn Wochen im Frühling 2020 gewesen, in denen Christina Huber (Namen der Familie geändert) ihren schwerbehinderten Sohn Tim allein pflegen musste.

Huber ist alleinerziehende Mutter und lebt in München. Ihr zwölf Jahre alter Sohn Tim ist mehrfach behindert und ein "Liegekind". Tim ist seit seiner Geburt kognitiv und körperlich stark eingeschränkt: Er kann maximal eine Stunde lang im Rollstuhl sitzen. Weil seine Muskeln und seine Motorik zu schwach sind, ruht er sich immer wieder im Liegen aus. Tim muss gefüttert werden, braucht beim Spielen Unterstützung, trägt Windeln, die auch nachts gewechselt werden müssen: eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Zu Hause kümmert sich Christina Huber seit seiner Geburt alleine um ihren Sohn. Über den Pflegegrad ihres Sohns sagt die 39-Jährige: "Es ist schon wertvoll, wenn ich eine halbe Stunde nichts machen muss."

Als Tims Pflegeeinrichtung im März 2020 schloss, reduzierte Huber die Stunden in ihrem Bürojob auf ein Minimum und arbeitete so viel wie möglich im Homeoffice. Tag und Nacht kümmerte sich die Mutter um ihren Sohn. Die psychische und körperliche Belastung in dieser Zeit - "das ging über den menschlichen Rahmen hinaus", sagt sie rückblickend. Im ersten Lockdown fragte sie sich oft: "Wie lange werde ich noch die Kraft haben, um durchgängig parat zu stehen?"

Dazu kam und kommt die ständige Unsicherheit und Sorge um ihr Kind: Hubers Angst vor einer Corona-Erkrankung ihres infektanfälligen und immunschwachen Kinds war groß - und sie ist es immer noch. Nur in Ausnahmesituationen holt sich Huber Unterstützung von einem "sehr, sehr engen Kreis" von Freunden und Bekannten. Im ersten Lockdown nutzte sie die Einkaufshilfen aus der Nachbarschaft, um Tim so selten wie möglich aus den Augen zu lassen. Nachdem sich die pandemische Lage vergangenen Sommer zwischenzeitlich beruhigt hatte, passten Freunde sporadisch auf ihren Sohn auf. In solchen Stunden tankt Huber Kraft: geht spazieren, trinkt in Ruhe einen Kaffee, "ohne das immer zwischendurch zu machen". Richtigen Hobbys nachzugehen sei für Alleinerziehende mit einem schwerbehinderten Sohn, die auch noch berufstätig sind, sowieso schwierig. Die Krankenkasse würde Huber zwar zu Hause stundenweise eine Pflegekraft bezahlen, aber wegen Corona bleibt sie vorsichtig, "möchte nicht zu viele Leute von außen ins Boot holen".

Damit ist Christina Huber nicht allein: Viele pflegende Angehörige verzichteten 2020 auf die Entlastung durch Tages- und Kurzzeitpflege, wie das Gesundheitsministerium in Berlin auf eine Anfrage der Bundestags-Grünen mitteilte. Im vergangenen Jahr verzeichneten die Krankenkassen 21 Prozent weniger Leistungen für Tages- und Nachtpflege und über zwölf Prozent weniger für Kurzzeitpflege als im Jahr vor der Pandemie.

Als die zweite Corona-Welle im Winter über das Land rollte, waren die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung besser vorbereitet und blieben geöffnet. Auch Hubers Sohn wurde wieder vom Beförderungsdienst abgeholt und ist seitdem unter der Woche jeden Tag von morgens um acht bis zum frühen Nachmittag mit sieben anderen Kindern in der Pflegegruppe seiner Tagesstätte. Neben der Betreuung absolviert Tim dort verschiedene Therapien, um Motorik und Muskeln zu trainieren. "Die Kontinuität in der Therapie ist so wichtig", sagt seine Mutter, "sonst macht man Rückschritte statt Fortschritte".

Als pflegende Angehörige wurde Huber im März erstmalig geimpft. Ihr Sohn werde ab und an in der Betreuung getestet, doch manche Kinder aus seiner Gruppe können die Mitarbeiter aufgrund ihrer Behinderung nicht testen. Hubers Vorsicht ist geblieben - trotz sinkender Inzidenzen und inzwischen doppelter Impfung. Sie sei weiter in "Habachtstellung", schränkt ihre Kontakte stark ein und besucht nur Leute, von denen sie weiß, dass diese sich genauso vorsichtig verhalten wie sie selbst.

Das sind vor allem andere alleinerziehende Mütter, die Kinder mit Behinderung haben. Huber ist seit ein paar Jahren in der Selbsthilfegruppe Bambeki aktiv, der Name steht für Bayerische Alleinerziehende mit behinderten Kindern. Seit Beginn der Pandemie helfe der Austausch untereinander noch mehr als davor, Huber telefonierte und schrieb viel mit anderen Müttern. "Wenn man mal geschwächelt hat, hat man sich Mut zugesprochen." Der Verein organisierte eine Spendenaktion, aus deren Erlös sich die Mütter Blumensträuße zusandten. Im ersten Lockdown brachten sie sich gegenseitig warme Mahlzeiten vorbei.

Etwas mehr Solidarität wünscht sich Huber von der Politik. "Wir sind die Randgruppe der Randgruppe 'Alleinerziehende'", stellt sie fest. Ein Fazit aus dem ersten Lockdown lautet: "Die Lobby der Pflegekräfte hinter der Tür zu Hause geht schnell unter." Doch bei allen Eventualitäten, welche die Pandemie noch mit sich bringt: Corona hat Huber gezeigt, welche Kraft man habe weiterzumachen. "Egal, was ist - man packt es an." Für den Sommer wünscht sich Christina Huber, mal wieder spontan einen Ausflug mit ihrem Sohn zu machen - ohne ständige Angst vor einer Corona-Infektion. Einfach los, wenn die Sonne scheint, vielleicht mal wieder zu einem Kinderkonzert oder in den Zirkus. Tim liebt Tiere, vor der Pandemie waren sie oft im Tierpark.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2021
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