Süddeutsche Zeitung

Cloud Appreciation Society:Mit dem Kopf in den Wolken

Lesezeit: 4 min

Der Hektik des modernen Lebens entkommen, indem man etwas völlig Nutzloses tut. Dieser Gedanke gefiel Bernhard Kaliner - und so wurde er Wolkensammler.

Von Martina Scherf

Am Himmel über Schwabing zieht ein Wölkchen vorbei, klar umrissen vor dem satten Frühlingsblau. Der Wind treibt es über die Dächer, und kaum wahrgenommen, ist es, schwups, schon wieder weg. Bernhard Kaliner steht auf dem Balkon seiner Wohnung im dritten Stock und blickt nach oben. Das macht er oft. Er sieht zwar nur einen Ausschnitt des Firmaments, aber wenn es ihm gefällt, dann nimmt er seine Kamera und fotografiert Wolken. "Manchmal renne ich auch zum Monopteros im Englischen Garten, wenn ich sehe, da braut sich was zusammen", erzählt er. Aber als Wolkenjäger würde er sich nicht bezeichnen. Eher als Sammler. Er schaut eben gerne in den Himmel. "Ich lebe ziemlich entschleunigt", sagt der Psychologe.

Dass Bernhard Kaliner Wolkenfreund wurde, das kam so: Vor zwölf Jahren las er in der Süddeutschen Zeitung einen Bericht über die britische Cloud Appreciation Society - nach eigener Aussage eine Ansammlung von Menschen, die mit dem Kopf in den Wolken leben. Die der "Banalität des Blauen-Himmel-Denkens" etwas entgegensetzen wollen und der Hektik des modernen Lebens entkommen, indem sie etwas völlig Nutzloses tun: Wolken beobachten.

Kaliner gefiel die Idee. Er schickte eine Mail und Fotos nach England, seither weist ihn eine Urkunde als Mitglied Nummer 9964 der Cloud Appreciation Society aus. Inzwischen hat der Verein weltweit mehr als 40 000 Mitglieder. Er gibt Kalender und Bücher heraus, und wer möchte, erhält eine Tagesmail "a cloud a day", mit einem Gedicht, einem Gemälde, einem besonderen Wolkenphänomen. Wolkengucken, das ist eine Möglichkeit, die Welt wieder mit Kinderaugen zu betrachten, schreibt Vereinsgründer Gavin Pretor-Pinney im Vorwort zu seinem Buch "Wolken, die aussehen wie Dinge." Da finden sich Ufos, Seepferdchen, Paradiesvögel und Tennisstar Andy Murray beim Aufschlag - was man eben so sieht, wenn man in den Himmel guckt. Auch ein Foto von Kaliner ist darin abgedruckt: eine Wolke, die wie Rauch aus einem Kamin aufsteigt, von seinem Balkon aus fotografiert.

"Vielleicht wäre es gut, wir würden alle öfter den Blick zum Himmel heben, anstatt in unser Smartphone zu gucken", sagt Kaliner, der einen himmelblauen Pullover trägt und seine Sätze mit Bedacht wählt. "Meine Lieblinge sind die Lenticularis." Die sehen aus wie dicke Linsen oder Zeppeline. Je nachdem, in welcher Höhe sich Wolken bewegen, und ob sie aus Wassertröpfchen oder aus Eis bestehen, tragen sie andere Namen: Kumulus, Zirrus oder Altostratus. Er kennt sich inzwischen aus.

In die Natur ging Kaliner, geboren 1947 in Rheinland-Pfalz, schon immer gerne. "Meine Eltern waren im Pfälzer Wanderverein", sagt er, "und später, als sie ein Auto besaßen, fuhren wir auch in die Alpen." Er leistete seinen Wehrdienst in Starnberg ab, "weil ich nicht wusste, was ich nach dem Abitur machen sollte". Zur Psychologie kam er, weil ein Stubenkamerad ein Buch hatte liegen lassen über Persönlichkeitsentwicklung. "Das fand ich so spannend, dass ich beschloss, in Heidelberg zu studieren, 1968 - zeitgemäßes Demonstrieren, vor allem gegen den Vietnamkrieg, mit Teach-in, Sit-in, Go-in inklusive."

Nach einem Forschungsstipendium bei der Max-Planck-Gesellschaft für Psychiatrie in München arbeitete er sechs Jahre in der Drogenberatung. "Dann hat's mir erst mal gereicht." Er ging auf Weltreise, acht Monate lang durch Indien, Nepal, Südostasien, den Südpazifik, mit Rucksack. "Von dieser Reise zehre ich heute noch", sagt er und zeigt auf die große Weltkarte in seinem Flur. Dort sind mit Stecknadeln alle Orte markiert, die er besucht hat.

Eine Weile arbeitete er danach in der Münchner Uniklinik, dann folgte "meine Diogenes-Phase", mit Schachspielen und Sonnenbaden am Eisbach. 1984 machte er sich als Psychotherapeut selbständig. Er hat gerne mit Patienten gearbeitet, sagt er, "jedenfalls mit den meisten". Aber drei Tage die Woche waren genug. So blieb Zeit fürs Sein. Seit mehr als 40 Jahren lebt er mit seiner Freundin (Mitglied Nr. 9965 im Verein der Wolkenfreunde) unverheiratet in getrennten Wohnungen. Seit Jahrzehnten trifft er sich jeden Donnerstag mit Schachfreunden im Schellingsalon. Er ist Mitglied der "Schopenhauer-Runde", einem Literaturkreis. Beides reine Männerrunden, "das hat sich halt so ergeben - vielleicht weil Männer da so vor sich hin schweinigeln können", sagt er und grinst.

Das meiste in seinem Leben hat sich einfach so ergeben. "Ich habe selten etwas fest geplant - und bin rundum zufrieden." Vor einiger Zeit entdeckte er einen Text von Hermann Hesse - "bestimmt der schönste Text, der je über Wolken geschrieben wurde." Da fiel ihm ein, dass er eine Schallplatte besaß, "Hesse Between Music", aufgenommen im Juni 1974. Die Betweens waren eine Gruppe um den Musiker Peter Michael Hamel und hatten mit dem Sprecher Gert Westphal Hesse vertont. "Und tatsächlich fand sich da auch diese Passage aus dem Roman ,Peter Camenzind'", sagt Kaliner und zieht die Platte aus dem Regal.

"Zeigt mir das Ding in der Welt, das schöner ist als Wolken sind!", schreibt der junge Hesse da. "Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von Neugeborenen, sie sind schön, reich und spendend wie gute Engel, sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des Todes. Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend weiß mit goldenem Rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bläulichen Farben. Sie schleichen finster und langsam wie Mörder, sie jagen sausend kopfüber wie rasende Reiter, sie hängen traurig und träumend in bleichen Höhen wie schwermütige Einsiedler. ... Und so, wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit."

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Quelle:
SZ vom 30.03.2019
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