Süddeutsche Zeitung

Caritas:Unvorstellbare Erlebnisse

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Jeanette Schmidt betreut traumatisierte Flüchtlinge

Interview von Inga Rahmsdorf, München

Jeannette Schmidt ist Leiterin eines Alveni-Clearinghauses für minderjährige Flüchtlinge. Sie und ihre Mitarbeiter sind speziell geschult und haben eine Fortbildung zur Traumafachberatung gemacht.

SZ: Inwiefern unterscheidet sich die psychologische Betreuung von Flüchtlingen von der anderer Jugendlicher?

Jeanette Schmidt: Der erste Punkt ist natürlich die sprachliche Hürde. Dabei geht es auch um Mimik und Gestik, die ganze nonverbale Sprache, die ganz anders ist und auf die man sich nicht berufen kann. Zudem sind die Jugendlichen traumatisiert von Dingen, die wir uns nicht einmal vorstellen können.

Was sind das für Erlebnisse?

Wir haben Kinder in der Einrichtung, die einige Zeit im Gefängnis verbracht haben. Kinder, die gefoltert wurden, deren Eltern ermordet wurden, die von der Polizei festgenommen wurden, ohne dass sie wussten warum. Sie haben oft ein anderes Gefühl von Recht und Ordnung, weil sie erlebt haben, dass Selbstjustiz die einzige Möglichkeit war, um ihr Leben zu schützen.

Ist es schwierig, die posttraumatischen Belastungsstörungen zu erkennen?

Gerade wenn man aus dem pädagogischen Bereich kommt, ist es sehr schwer, zu unterscheiden, ob ein Kind klarere Grenzen braucht, weil es trotzig ist, oder weil es in der Pubertät ist oder in bestimmten Situation aggressiv reagiert. Wenn ich aber von einer Traumatisierung ausgehe, dann kann das Kind in dem Moment gar nicht anders. Dann ist es innerlich so verletzt, das ist wie ein Reflex, dann funktioniert nur das Muster, das in Notsituationen hilft. Da komme ich mit Pädagogik nicht weiter.

Wie reagieren Sie dann?

Eine Methode ist es, die Kinder ins Hier und Jetzt zu holen. Den Blickkontakt zu halten und zu sagen, ich bin Jeannette, wir sind in München, in Deutschland, alles ist in Ordnung. Manchmal gehen wir auch dazwischen und trennen die Jugendlichen, um sie zu beruhigen. Aber es funktioniert nicht, wie man das pädagogisch macht, zu sagen: Stopp, hör auf. Da hätten wir in dem Augenblick keine Chance. Sie haben in dem Moment gar nicht die Möglichkeit, bewusstes Handeln dazwischen zu schalten.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2015
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