Süddeutsche Zeitung

Bogenhausen:Erste Hilfe für die Kinderseele

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Die Ambulanz für Notfallpädagogik an der Possartstraße bietet jungen Menschen Unterstützung in Krisensituationen

Von Nicole Graner, Bogenhausen

Alles ist schwer. Alles, was glücklich gemacht hat, ist nicht mehr spürbar. Und weil sich dieses Glücksgefühl davongeschlichen hat, ist der Rückzug in sich selbst oft ein Weg, um sich abzuschotten von der Welt. Traumata, Trauer, Gewalt, Missbrauch - es gibt viele Erlebnisse, die Kinder und Jugendliche in schwierige Lebenssituationen stürzen. Dann braucht es Orte, braucht es Menschen, die helfen können. "Zeit braucht sie, die Wunde; Zeit und Zärtlichkeit, um zu heilen", schreibt die Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006) - und genau diese Zeit, um Ängste und Trauer abzubauen, schenkt die Notfallpädagogik in Bogenhausen, die es seit Kurzem an der Possartstraße 33 gibt, betroffenen Familien.

"Nichts ist so, wie es war", sagt Geschäftsführer Stephan Weber und versucht, in der virtuellen Unterausschusssitzung Mitgliedern des Bezirksausschusses (BA) Bogenhausen die Arbeit der Notfallpädagogik zu präsentieren und zu schildern, wie es ist, wenn Kinder oder Jugendliche zu ihnen kommen. Wenn die Kinder Vertrauen gefasst hätten und beschrieben, wie es ihnen geht, "ist die Welt einfach erschüttert". "Alles", sagt Weber, "ist eingefroren." Der erste Schritt ist, und damit beginnt die Arbeit in der Ambulanz, bei Gesprächen Vertrauen aufzubauen, zu signalisieren, dass die Angst oder das Erlebte ernstgenommen werden. Dabei, so erklärt Weber die Vorgehensweise, müsse gar nicht über das Ereignis, das Ängste ausgelöst hat, gesprochen werden. Malen, Rhythmus, Bewegung, künstlerische Maßnahmen - all das gehöre zu den notfallpädagogischen Möglichkeiten dazu.

In 25 Ländern gibt es diese Anlaufstellen schon. Die Idee für eine Ambulanz für Notfallpädagogik in München geht auf das anthroposophische Parzival-Zentrum in Karlsruhe zurück und wurde von der "Dr. Ingeborg und Marion von Tessin-Stiftung" aufgegriffen. Die Stiftung unterstützt den Aufbau und Betrieb der Ambulanz in den ersten Jahren.

Wie wichtig es sei, dass es nun auch eine weitere Ambulanz in München gebe, zeigten, so Stephan Weber, auch ganz aktuelle, alarmierende Zahlen. Vor Corona sei jedes fünfte Kind psychisch belastet gewesen, jetzt sei es jedes dritte. Und er befürchtet, dass die Zahlen noch steigen werden. Schnelle Hilfe sei daher wichtig. Denn noch immer dauere es viel zu lange, sagt der Geschäftsführer, bis Kindern, Jugendlichen und Familien in der Regel geholfen werden könne.

Auch deshalb ist das Angebot der Ambulanz an der Possartstraße bewusst niederschwellig. Jeder kann sich anmelden, zum Beispiel für Hilfe in der offenen Ambulanz. Es gibt aber auch eine sogenannte Helpline. Zehn Einheiten für Einzelgespräche werden angeboten, eine Langzeittherapie gibt es in der Notfallpädagogik nicht. Ziel ist es, wieder Sicherheit zu geben, auf der das Kind, der oder die Jugendliche aufbauen kann. Revitalisierung lautet das Stichwort. Also, wie Weber sagt, die Ängste zu benennen, mit ihnen zu arbeiten, Strategien für den Alltag zu entwickeln und auf diese Weise das Kind zu stabilisieren und ins Leben zurückzuholen. Manchmal, wenn es notwendig sei, vermittle die Ambulanz auch Therapieplätze.

Das Untergremium des Bezirksausschusses zeigte sich nach der Präsentation der Ersten Hilfe für die Seele beeindruckt und will die Notfallpädagogik im Stadtviertel bekanntmachen - bei Schulen, bei Kindergärten. Denn die Notfallpädagogik und ihre Mitarbeiter kommen auch dahin, wo sie gebraucht werden: nach Hause, in die Schule oder den Kindergarten.

Notfallpädagogik, Possartstraße 33, Montag bis Freitag, 9 bis 15 Uhr. Offene Ambulanz, jeden Donnerstag, 15 bis 18 Uhr. Eine Anmeldung ist immer erforderlich. Helpline: 0151/73 00 90 08 oder E-Mail: hilfe@nfp-muc.org. Weitere Infos auf der Webseite: www.nfp-muc.org

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SZ vom 19.03.2021
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