Süddeutsche Zeitung

Augmented Reality:Die Realität ist eine Suchmaschine

Lesezeit: 5 min

Science oder Fiction? Per Smartphone lassen sich Dinge in der Welt sehen, die niemand sonst sieht: Monster, aber auch Informationen über den nächsten Biergarten. Steht ''Augmented Reality'' vor dem Durchbruch?

Elisabeth Schmidt

Die Innenstadt von München an einem Donnerstagnachmittag, das Pflaster auf dem Marienplatz ist glühend heiß. Ein schattiger Biergarten müsste her, kein Problem. Denn die ganze Welt ist inzwischen eine Suchmaschine. Man hält das Smartphone in alle Himmelsrichtungen, filmt die Gebäude auf dem Marienplatz und der Kaufingerstraße - und sucht so die Umgebung nach einem Biergarten ab. Auf dem Display erscheinen nicht nur die Häuserfassaden, sondern es ploppen plötzlich kleine Bierkrüge und Kurzbeschreibungen auf, je nachdem in welche Richtung man die Kamera hält: Hofbräuhaus Biergarten - 400 Meter, Augustiner Keller - 1,9 Kilometer.

Ein Antippen auf dem Touchscreen des Handys verrät, dass der Augustiner Keller ein "traditioneller Biergarten in der Nähe des Hauptbahnhofs" mit "einmaliger Stimmung" ist. Ein weiteres Antippen und die Website des Augustiner Kellers öffnet sich, die Speise- und Getränkekarte sowie Fotos von dem Biergarten erscheinen.

Das ist keine Zukunftsvision, sondern bereits Realität. "Augmented Reality" (AR), erweiterte Wirklichkeit, heißt das Verfahren, in dem die natürliche Welt quasi in Echtzeit mit Informationen aus dem Internet überlagert wird. Alles was dazu nötig ist, ist eine Kamera, ein GPS-fähiges Gerät und ein Rechner mit Display - Eigenschaften, die praktisch jedes Smartphone heute besitzt. Im iTunes-Store oder Android-Market gibt es die passende Software - die AR-Browser Layar, Wikitude oder Junaio des Münchner AR-Spezialisten Metaio.

In der Kaufingerstraße erfährt man nicht nur etwas über Biergärten, sondern auch dass in der nahen Fürstenfelder Straße eine Drei-Zimmer-Wohnung frei ist. Zweimal antippen, der Mietpreis ploppt auf und man kann sich die Wohnung von innen ansehen, die Telefonnummer des Maklers erscheint. Ein weiterer Handyschwenk: Ein Plakat für einen Kinofilm wird gefilmt. Infos über die Darsteller tauchen auf, das nächste Kino wird angezeigt, in dem der Film läuft. Ein Finger auf den Button und der Trailer kann abgespielt und Kinokarten vorbestellt werden.

Bislang muss man in den Browsern noch Kanäle für die verschiedenen Anwendungen auswählen. Bei Junaio, der Browser von Metaio, etwa den Biergärten München Kanal, Mietwohnungen-, Kino.de-, Wikipedia- oder Supermärkte-Kanal. Die Anbieter der Kanäle können digitale Botschaften an Orte binden und sie dort als sogenannte "Air Tags" für die Nutzer hinterlegen. Die Orte verfügen über eine Geoposition und sind über Kompass oder GPS vom Handy ortbar. Über Bilderkennung landen die Informationen auf dem Display des Handys - Navigationspfeile, Gebäudebeschreibungen, das Kinoprogramm oder Bedienungsanleitungen blinken auf.

Die vorhandenen Air Tags sind heute allerdings nach wie vor überschaubar. Noch arbeiten zu viele Hersteller an zu vielen unterschiedlichen Anwendungen. Eines der deutschen Augmented-Reality-Zentren ist München. Die Abteilung für "Virtuelle und Erweiterte Realität" des Fraunhofer-Instituts feilt seit mehr als 15 Jahren an AR-Anwendungen, hauptsächlich für Industrie und Wissenschaft. An der Technischen Universität München entwickeln Informatiker mit Chirurgen der Uni-Klinik ein AR-basiertes Navigationssystem, das Chirurgen beispielsweise einen zu entfernenden Tumor anzeigt.

Augmented-Reality-Anwendungen für den "Hausgebrauch" gibt es mittlerweile in vielfältiger Weise - meistens sind sie in Applikationen (Apps) eingelagert. Der Münchner Verkehrsverbund bietet etwa eine App an, in der man per AR die nächste Haltestelle finden kann. Auch die Stadt München arbeitet an einer AR-App. Der Trend scheint dahin zu gehen, dass immer mehr Anbieter Augmented Reality in ihre Applikationen integrieren. Jan Schlink vom Münchner AR-Entwickler Metaio hält dagegen: "Immer mehr Apps herauszubringen ist langfristig gesehen wenig sinnvoll. Wir wollen den Content, der überlagert wird, in einem Browser bündeln." Bis der Nutzer nur noch seine Handykamera zücken und auf die Wirklichkeit richten muss, um alle relevanten Informationen angezeigt zu bekommen, wird es allerdings noch dauern.

Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang heißt "Objektüberlagerung". Genau genommen sind eingeblendete Wikipedia-Informationen nur die Vorstufe dazu, was Augmented Reality einmal leisten soll.

Das Süddeutsche Zeitung Magazin nutzte im August 2010 als erstes Magazin weltweit Augmented Reality, um das Heft zu "beleben". Mit gezücktem Smartphone bewegte sich Sandra Maischberger plötzlich auf der Titelseite. Beim "Sagen Sie jetzt nichts" konnte man erfahren, was Lena Meyer-Landrut beim Fotoshooting gedacht hat, oder welche Zukunftsängste Garmischer Bauern beim Blick auf ihre Weide hatten.

Ähnliche Anwendungen sind auch die digitalen Boxen von Lego: Spielzeugverpackungen werden vor eine Webcam gehalten; auf dem Bildschirm im Lego-Store sieht der Kunde dann ein animiertes 3D-Modell dessen, was die Verpackung beinhaltet. Spielereien, könnte man sagen. Die Branche sieht darin jedoch Prototypen der Augmented-Reality-Forschung.

Dennoch: Den absoluten Durchbruch hat Augmented Reality trotz mehrerer Dekaden Forschung bisher noch nicht erlebt. Laut Schlink hat das mit vier Barrieren zu tun: der beschränkten Leistungsfähigkeit des Rechner-Prozessors und der Akkus, der Software und auch der Tatsache, dass die Hersteller - wollten sie denn ihre Software auf IT-Messen vorstellen - meistens keine geeignete Technologie vor Ort zur Verfügung haben.

Der Durchbruch könnte mit Tablet-PCs wie dem iPad2 kommen, auf das die Hersteller große Hoffnung setzen - nicht nur wegen des großen Displays, sondern vor allem deshalb, weil immer mehr Geräte die passenden Sensoren für Augmented Reality mitbringen: zwei hoch auflösende Kameras und neben GPS oder Kompass vor allem Zwei-Kern-Prozessoren.

Bei Multimedia-Inhalten wie dem Sandra-Maischberger-Film auf der Titelseite des SZ-Magazins muss das Smartphone oder Tablet das Objekt erstens erkennen. Zweitens muss es das Bild weiterverarbeiten und digitale Informationen integrieren. Arbeitet der Prozessor mit zwei Kernen, kann auf dem einen Kern das Objekt erfasst und auf dem anderen weiterverarbeitet werden - die Rechenleistung wird schneller, weniger Akku wird verbraucht.

Vielversprechend seien laut Metaio das iPad2 oder das Motorola Xoom, das erste Android 3.0-basierte Tablet. Weil fast jeder Hardware-Hersteller ein Tablet herausgebracht hat oder dies plant, seien Hardware und Software ''AR ready'', verspricht Metaio.

Metaio ist nach Unternehmensangaben seit 2009 jährlich um das Doppelte gewachsen. In den vergangenen sechs Jahren hat die Firma 500 AR-Projekte durchgeführt. Für Jan Schlink steht fest: "Die Branche wächst gewaltig. Zwar noch nicht exponentiell, aber sie wächst. "

Im Mai brachte das Unternehmen die neue Version 2.6 seines Browsers Junaio heraus - und passte ihn speziell für Tablet-PCs an. Zwar erscheint die Vorstellung sehr unpraktisch, in Zukunft mit einem iPad vor der Nase durch die Stadt zu laufen - immerhin hat das Tablet eine Länge von knapp 25 Zentimetern. Metaio sieht die Zukunft von AR auf Tablets jedoch eher im ''Hausgebrauch'' und am Arbeitsplatz. Wer einen Digital-Receiver an den Fernseher anschließen will oder bei seinem Auto einen Reifen wechseln möchte, bekommt in Zukunft eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wenn er sein Tablet auf das Gerät richtet - in 3D.

Wer mehr über den Inhalt seines Kühlschranks erfahren möchte, erhält Nährwertangaben zu den einzelnen Produkten oder wird direkt an einen Online-Shop weitergeleitet. Das AR-Potential dürfte vor allem die Werbe- und Gaming-Industrie interessieren, aber auch Tourismusanbieter oder Museen. Auch Social-Media-Funktionen sind in dem AR-Browser integriert. Damit kann der Nutzer selber Air Tags hinterlassen - Empfehlungen an Facebook-Freunde etwa, welche Bars oder Museen einen Besuch wert sind.

Augmented Reality ist heute nicht mehr bloß Fiktion, sondern zu einer Wissenschaft geworden, die Trendforschern zufolge die digitale Welt in den nächsten Jahren entscheidend prägen wird. Analysten der Investment-Bank Goldman Sachs sagen für 2011 zudem einen rasanten Anstieg von Tablet-Nutzern voraus. Allein in den USA würden 21 Millionen Menschen eher ein Tablet als einen Laptop kaufen. Über ein Drittel aller gekauften Computer wären somit Tablets.

Die finale Stufe von AR könnte den Gebrauch von Smartphones oder Tablet-PCs überflüssig machen. An der Washington State University ist es Forschern bereits gelungen, ein Pixel auf eine bionische Kontaktlinse zu verfrachten. Spätestens wenn virtuelle Informationen per Kontaktlinse im normalen Sichtfeld einer Person auftauchen, wird Science Fiction real.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1097218
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.