Süddeutsche Zeitung

Aubing:Kränkelnder Stadtrand

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Mehreren, zum Teil alteingesessenen Praxen wurden ihre Mietverträge gekündigt. Mediziner und Politiker bangen nun um die ärztliche Versorgung im Viertel und schlagen Alarm

Von Ellen Draxel, Aubing

Die Zeit drängt. Aus Sicht vieler Ärzte aus Neuaubing ist es fünf vor zwölf: Weil an zwei Standorten Praxen die Räumlichkeiten gekündigt und bislang keine neuen gefunden worden sind, bangen die Mediziner nun um die künftige ärztliche Versorgung im ganzen Viertel. Und nicht nur sie: Auch Aubings Lokalpolitiker sehen dringenden Handlungsbedarf für den Stadtbezirk - auch für Freiham.

Tanja Goldbrunner betreibt mit ihrer Kollegin Meike Tissen eine Hausarzt-Praxis an der Wiesentfelser Straße 68. Im April 2017 haben die beiden die Räume von ihrem Vorgänger übernommen - wohl wissend, dass das Ladenzentrum von 2022 an abgerissen werden soll. Damals glaubten die Allgemeinmedizinerinnen allerdings noch fest daran, in der nahen Umgebung problemlos eine Alternative zu bekommen. Zumal der neu entstehende Stadtteil Freiham nur 200 Meter entfernt liegt. Sie wandten sich also an die Stadt und boten an, langfristig nach Freiham-Nord umzuziehen. "Aber nichts ging", erzählt Goldbrunner. Dann fragten sie bei den städtischen Wohnbaugesellschaften GWG und Gewofag nach, außerdem bei diversen anderen Bauträgern. Auch dort Fehlanzeige. Die Gewofag hätte Goldbrunner und Tissen zwei kleine Teilwohnungen in Freiham vermieten können, die ihnen aber nichts nützen, weil sie 250 Quadratmeter im Erdgeschoss brauchen. Und die GWG, der der Ladenzentrum-Komplex gehört, bot den Ärztinnen zwar an, 2025 in den Neubau in Neuaubing wieder einziehen zu können. "Aber wo sollen wir in der Zwischenzeit hin?", fragt sich Goldbrunner. Ihren Kollegen in dem Ladenkomplex erging es ähnlich, an der Wiesentfelser Straße 68 sind noch eine weitere Allgemeinärztin, zwei Zahnarztpraxen, eine Physiotherapeutin und eine Apotheke untergebracht. Allen wurde bis Ende 2021 gekündigt, alle stehen im Moment ohne neue Praxen da. "Ganz ehrlich", sagt Goldbrunner ernüchtert, "ich hätte nie gedacht, dass wir als Grundversorger ein Problem haben, in dem neuen Stadtteil eine Praxis zu bekommen."

Nur ein paar Meter weiter, an der Riesenburgstraße 40, müssen ein Kinderarzt und eine dritte Internistenpraxis ebenfalls in wenigen Monaten ihre Räume verlassen. Die Mietverträge wurden nicht verlängert. Der Hausarzt Erich Brosch ist seit 40 Jahren für die Menschen im Quartier da, der Kinderarzt Peter Feiereisen seit 21 Jahren. Brosch wird sich wohl Richtung Westkreuz orientieren, Feiereisen ist noch auf der Suche. "Aufhören werde ich aber nicht", verspricht der 62-jährige Kinder- und Jugendmediziner. "Ich überlege mir schon was zum Wohle meiner Patienten." Er weiß, er wird dringend gebraucht: Im Sprengel gibt es nur noch wenige Kinderärzte.

Die Versorgung am Stadtrand ist, wie es eine Lokalpolitikerin in der Bezirksausschuss-Sitzung formulierte, teilweise "himmelschreiend". Betreut ein Arzt statistisch gesehen im gesamtstädtischen Vergleich 392 Münchner, muss er sich im Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied um 1067 kümmern. Besonders ausgeprägt ist der Unterschied bei Fachärzten, ein eklatantes Defizit zeigt sich aber auch bei Haus-, Kinder- und Zahnärzten. Der Bezirksausschuss kritisiert deshalb auch das System der Kassenärztlichen Vereinigung. "Die Selbstversorgung der Ärzte wird meiner Ansicht nach nicht mehr ordentlich wahrgenommen", schimpft Gremiums-Chef Sebastian Kriesel (CSU). "Wir am Stadtrand werden massiv im Stich gelassen." Wo sich Mediziner niederlassen können, hängt unter anderem von der Bedarfsplanung ab - und München gilt als mit Ärzten überversorgte Stadt. Dass die meisten Ärzte im Zentrum sitzen, interessiert bei der Beurteilung nicht, die Verteilung nach Stadtteilen ist irrelevant. "Aufgrund der hervorragenden Verkehrsinfrastruktur" sei jedoch "davon auszugehen, dass die vorhandenen Versorgungsangebote in zumutbarer Erreichbarkeit in Anspruch genommen werden können", heißt es auf Nachfrage bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Bayern. Von aktuellen Problemen weiß die KV nichts.

Trotzdem, finden die Bürgervertreter, seien der Stadt nicht komplett die Hände gebunden, die Kommune habe die Pflicht zur Daseinsfürsorge und könne zumindest in Freiham für nutzbare Räumlichkeiten sorgen. Ärztin Tanja Goldbrunner hat bereits angeregt, ein Wohnhaus als Ärztehaus zu nutzen, idealerweise in Verlängerung der Wiesentfelser Straße oder etwas nördlich davon. Sodass die Patienten es in die Praxen dann nicht viel weiter hätten als bisher. "Wir könnten ja auch woanders praktizieren, wollen wir aber nicht. Wir möchten diesen Stadtteil gut versorgen." Die planungsrechtliche Grundlage für die Niederlassung von Ärzten sei jedenfalls gegeben, meint Referatssprecher Ingo Trömer. Man habe bereits, ergänzt Michael Schmitt von der GWG, die "Flächenbedarfe der Dienstleister erfasst und den Fertigstellungsdaten der Freihamer Bauprojekte gegenübergestellt". Der Bezirksausschuss fordert nun "dringend" ein Gespräch am runden Tisch, mit dem Referat für Gesundheit und Umwelt, der Präventionskette Freiham, dem Planungsreferat sowie Vertretern von GWG und Gewofag.

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SZ vom 08.08.2020
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