Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie "Endlich Zeit für":Kinderreime für Erwachsene

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"What Are People For?" sind nicht nur eine Band, sie sind ein Ereignis. Man kann sich viel Zeit nehmen, um alles auf dem kunterbunt-dunklen Debütalbum der Münchner Szene-Supergroup zu ergründen.

Schnell ist man geblendet. Von der Bienenkorbperücke auf Anna McCarthys Kopf etwa. Die kann ebenso frisurenmodische Hommage an die B-52s und die Sixties sein wie eine Assoziation an die Bärenfellmützen der Londoner Garde, während die Sängerin selbst in dem Haarballon eine Denkwolke sieht. Gedankenspiele. Kopf aus und mittreiben. Wie Paulina Nolte neulich in den Münchner Kammerspielen im pinken Negligé einen Schmetterlingstanz zelebriert, neben ihr McCarthy in Mini und Boots am Boden wie ein Staubsauger den Bühnendreck anziehend. Was gut passt zur antisterilen Nummer "Bring Back The Dirt", die mit Drum-Dream-Boy Tom Wus Trommel-Peitsche und Synthie-Schamanin Manuela Rzytkis Beat-Fesseln die saubere Stadt und ihr Publikum mit in den schönen Schmutz ziehen möchte: Warum seid ihr nur alle so "squeeky clean"?

What Are People For? sind nicht nur eine Band, sie sind ein Ereignis. Ein Happening, das mal den Hauptpreis des "Rodeo"-Theaterfestivals gewann, unbeabsichtigt, wie McCarthy sagt, eigentlich wollte man nur eine Band sein. Eine aber, die wie alles, was diese vier veranstalten, in unterschiedlichen Kontexten funktionieren soll. Zum Beispiel die beiden Gründerinnen: Rzytki macht Musik für Bands wie ihr Duo Parasyte Woman, fürs Theater und Hörbücher und für sich selbst als Klangforscherin. Und McCarthy macht Musik (früher Damenkapelle), Performances, Beatnik-Poesie, Kunst aller Art, etwa auch Videos für Rzytki.

Also haben sie ihre erste gemeinsame Supergroup gegründet: What Are People For? Wofür? Wissen sie nicht genau. War irgendwie fällig. Für jeden lässigen Staatsakt in München werden sie gebucht, für Preisgalas, Weltfrauentags-Streams und Plattenladen-Jubiläen, aber sie sind längst weiter, spielten auf Island, in Berlin, bald in Italien, werden für Opern angefragt - und endlich soll das WAPF-Konzept auch auf Langspielplatte aufgehen.

Klappt das, ohne Negligé und Mini? Klar. Das Album auf dem Renommier-Label Alien Transistor der Notwist-Brüder Acher (spielen mit Rzytki bei Landlergschwistern und Le Millipede) war eine der prägenden Platten der Münchner Szene 2022: düster und schillernd, Dreck und Disco, menschgemacht und technoid, frei und konstruiert, naiv und schlau. Die Band vergleicht das mit der schwedischen Kinderserie "Die Mummins", die ein immenser Einfluss sei, weil sie ungewöhnliche gesellschaftliche Problemlösungsansätze böte und mystisch verworren und doch niedlich daherkäme - ganz wie das von McCarthy gestaltete Märchenwald-Cover. Man kann sich viel Zeit nehmen, um alles auf dieser Platte zu ergründen.

Man kann quasi in die Rolle von Paulina Nolte schlüpfen, die als Kunstakademie-Absolventin und Atelierpartnerin McCarthys zu WAPF kam, um zu tanzen, zu singen, aber vor allem, um zu staunen, was die anderen so über Musik erzählen können. Etwa Produzentin Rzytki, wenn sie erklärt, wie Synthesizer-Pioniere einst mit ihren Kabelkästen experimentierten; wie sie und McCarthy Loop-basierten Hip-Hop machen wollen; und wie nun etwas zwischen Spoken Word, Post-Wave oder Electro-Punk entsteht, Konzept-Art-Pop, der die einen an White Noise denken lässt, andere an den Talking Heads-Ableger Tom Tom Club, an "Warm Leatherette" von The Normal oder an die Sleaford Mods, geprügelt und doch tanzbar das psychedelisch-perkussive Ganze, "Dystopic Dance Music" eben.

Dystopisch sind vor allem die Inhalte. Man sollte das Textblatt studieren, wünscht sich McCarthy. Viele Deutschsprachler würden all ihre Anspielungen und Zitate ja gar nicht verstehen. Was wie ein "Nursery Rhyme" (ein Titel), also ein Abzählreim für Kinder, klingt, ist oft Systemkritik und Analyse menschlicher Ängste und Gelüste voller schwarzem Humor. Auf einer Busfahrt durch London ("73") rechnet sie beim Aufzählen ehemaliger Kolonien mit der imperialistischen Monarchie ab; in "Drones" ängstigt sie sich vor der Überwachung durch Zigarettenautomaten; zu "Summer of War" hat sie ein Gedicht verdichtet, das sie angesichts des Kampfes um Wasser während eines Stipendiums im ausgedörrten Los Angeles schrieb; und natürlich ergeben sich viele Fragen auf die Frage, wozu Menschen überhaupt da sind. Um sie etwa in den Krieg zu schicken?

Man muss aber auch gar nicht lange nach Antworten grübeln: Negligé anziehen, Platte auflegen und über den Boden rollen, das kann auch ein Zweck des Menschseins sein.

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