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Amoklauf am OEZ:Die Debatte über die Motive von David S. ist unverzichtbar

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War der Amoklauf am OEZ in München die Tat eines Mobbingopfers oder Rechtsterrorismus? Diese Frage ist weit mehr als ein Experten-Streit über die Feinheiten der Kriminalitätsstatistik.

Kommentar von Kassian Stroh

In den ersten Minuten war es eine Schießerei, rasch kursierte der Verdacht eines Terroranschlags, am Ende stand als offizielle Erklärung der Amoklauf eines 18-Jährigen, der Rache habe nehmen wollen für all die Demütigungen, die er in der Schule erfahren habe. Neun Menschen erschoss David S. am 22. Juli 2016 in München, anschließend tötete er sich selbst.

Aber war er nur ein Mobbingopfer, das irgendwann durchdrehte? Oder war da mehr? S. war unbestritten rechtsradikal - lag nicht darin seine Motivation, junge Menschen zu töten, die offenkundig Ausländer waren oder ausländische Eltern hatten? Drei Gutachter, beauftragt von der Stadt München, werden an diesem Freitag bei einer Anhörung diese, ihre Sichtweise präsentieren; einer von ihnen spricht sogar von Rechtsterrorismus.

Auch sie sagen, dass der Fall David S. ein besonderer und nicht einfach zu kategorisieren ist, dass man die Psyche eines Täters posthum schwer ausleuchten kann. Und doch werfen die Gutachter den Ermittlungsbehörden vor, S. rechtsradikalen Beweggründen zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. Diese Zweifel hat es immer gegeben, nun ist die Debatte voll entbrannt.

Diese Debatte macht nichts ungeschehen, sie heilt keine Wunden, sie bringt keinen der Toten zurück ins Leben. Aber sie ist alles andere als akademisch und weit mehr als ein Experten-Disput über die Feinheiten der Kriminalitätsstatistik. Sie ist unverzichtbar.

Aus drei Gründen: Erstens ist der Staat, ist die Gesellschaft den Angehörigen der Opfer Aufklärung schuldig. Sie haben ein Recht darauf, dass die sie quälende Frage nach dem Warum, so gut es geht, beantwortet wird. Zweitens ist diese Debatte wichtig für die Lehren, die man aus solch einer Tat ziehen muss. Weil sich im einen Fall die Frage stellt, ob genug gegen Mobbing an Schulen getan wird, ob Lehrer und Schulpsychologen hinreichend sensibilisiert sind; das ist infolge der Münchner Bluttat auch politisch diskutiert worden.

Im anderen Fall stellt sich die Frage, wie man Jugendliche immun macht gegen rechtes Denken, gegen Ausländerhass oder Antisemitismus. Und drittens ist diese Debatte für das Selbstbild und die Erinnerungskultur Münchens wichtig - weil es etwas anderes ist, Schauplatz eines Amoklaufes zu sein als erneut eines blutigen Terrorakts.

Natürlich ist es bequemer, über einen Amoklauf zu reden

2001 und 2005 ermordete der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund zwei Menschen in dieser Stadt, bald vier Jahrzehnte liegt das Oktoberfestattentat zurück. Und doch ist es für die Suche nach Gründen und Hintergründen eines solchen Verbrechens nie zu spät. Derzeit ermittelt hier der Generalbundesanwalt. Vorschnell hatten die Ermittler seinerzeit alles vom Tisch gewischt, was gegen ihre These vom Einzeltäter sprach; dabei hatte der Täter, ein Rechtsextremist, Verbindungen zu anderen Gesinnungsgenossen. Immerhin, im Fall David S. unterstellt niemand den Behörden, schlampig gearbeitet oder gar etwas vertuscht zu haben, auch die drei Gutachter tun das nicht.

Aber natürlich ist es einfacher und bequemer, über einen Amoklauf zu reden. Ein psychisch kranker Täter, der junge Menschen ermordet, weil sie ihn an die erinnern, die ihm angeblich Leid angetan haben, verstört weniger als ein Täter, der tief gekränkt war, sich rechtsradikalen Ideen zuwandte und beschloss, seine Stadt vor einer angeblichen Überfremdung zu schützen und von "Kanaken" zu befreien. Der sich vielleicht, weil seine Eltern Iraner waren, besonders deutsch geben wollte.

Ja, sich das vor Augen zu führen, verstört. Aber es ist nötig. Zumal in der Stadt des Oktoberfestattentats. Zumal in der Stadt zweier NSU-Morde. Zumal in der Stadt, welche die Nazis die Hauptstadt ihrer Bewegung nannten. Auch dieses Erbe verpflichtet.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2017
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