Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Orakel von Delphi

Wenn es um Drohungen gegen Deutschland geht, zeigt sich der russische Botschafter so auslegungsbedürftig wie antike Göttersprüche.

Von Johan Schloemann

Zwei Adler ließ der Göttervater Zeus von den Enden der Welt losfliegen, und wo sie sich begegneten, da sollte der Mittelpunkt der Erde sein. Sie trafen sich in Delphi, gut 150 Kilometer nordwestlich von Athen. Und so stand in Delphi, das dem Gott Apollon heilig war, ein Stein, der den "Nabel der Welt" symbolisierte. Für den Nabel der Welt hielt man später andere Mittelpunkte geistlicher oder weltlicher Reiche, etwa Rom, London oder auch Moskau. Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, hat bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) kommentiert, dass Eutelsat den russischen Propagandasender RT DE nicht länger ausstrahlt: "Es wird sicher eine Reaktion von russischer Seite geben. Ich bin kein Orakel von Delphi, aber es gibt da verschiedene Möglichkeiten." Er sei also nicht der prominenteste antike Ort für göttliche Weissagungen, meint Netschajew - aber mit seiner Aussage verhält er sich genauso wie das Orakel von Delphi. Denn dessen Sprüche, von einer Priesterin in Trance verkündet, waren mehrdeutig und auslegungsbedürftig, und sie betrafen oft zwischenstaatliche Konflikte. So, wie der Botschafter jetzt andeutet, deutsche Journalisten in Russland weiter zu drangsalieren. Und passend zur Deutung von Orakelsprüchen sagt er zudem (wenn auch nicht im Kontext mit RT DE): "Wir nehmen niemanden beim Wort."

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