Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Schwamm drüber, es ist Krise

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Premier Mark Rutte hat gelogen und betrogen. Doch Politik und Öffentlichkeit tun so, als wäre nichts passiert.

Von Thomas Kirchner

Als Beobachter hat man den Vorteil, ein Geschehen von außen betrachten zu können. Das mag sich banal anhören. Aber es spielt eine Rolle, wenn man beurteilen möchte, was gerade in der niederländischen Politik passiert. Ist man nicht Teil des dortigen Betriebs, nicht eingebunden in die machttaktischen Spielchen, das Relativieren und Abwägen, das Geben und Nehmen, das Gerede von staatspolitischer Verantwortung - dann sieht man die Dinge anders. Und sieht ein Land, dessen moralischer Kompass derzeit nicht funktioniert.

Zur Erinnerung: Durch Zufall kam heraus, dass der amtierende Premier Mark Rutte versucht hatte, im Zuge der Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung den unbequemen Christdemokraten Pieter Omtzigt aus dem Weg zu räumen. Rutte leugnete das zwar eine Woche lang, wurde aber schließlich durch Dokumente überführt. Statt die Lüge jedoch einzugestehen, redete er sich mit seiner "falschen Erinnerung" heraus. Gleichzeitig stritt er ab, überhaupt ein Motiv für die Kaltstellung Omtzigts zu haben - obwohl es sich unbestritten um seinen wohl gefährlichsten Kritiker handelt, einen aufrechten Volksvertreter, der sich anschickt, nicht nur Ruttes eklatantes Versagen in der Affäre um vom Staat zu Unrecht zurückgefordertes Kinderbetreuungsgeld aufzuklären, sondern vielleicht sogar die Fehler und Ungereimtheiten von Ruttes anfänglicher Corona-Politik ans Licht zu bringen.

Auch die wichtigsten Koalitionspartner fordern nur etwas Reue

Und wie reagiert man in Den Haag? Nicht nur die eigene Partei stellt sich geschlossen hinter den seit bald elf Jahren amtierenden Rutte, dem fast alle ihre Posten verdanken. Auch die wichtigsten bisherigen Koalitionspartner, Linksliberale und Christdemokraten, fordern nicht etwa den Rücktritt des legendär biegsamen und schon oft beim Lügen ertappten Ministerpräsidenten, sondern nur etwas Reue. Schwamm drüber, es ist Krise, das Land muss regiert werden. Ohne Rutte wäre es doch realistisch gesehen überhaupt nicht möglich, eine Regierung zu bilden, sagen sie. Und droht ohne ihn nicht monatelanges politisches Chaos, von dem nur Extremisten wie Geert Wilders profitieren? Selbst die Grünen halten Rutte die Tür einen Spalt offen, man will sich ja nicht alle Machtoptionen verbauen.

Das Erstaunlichste aber ist: Ein Großteil der Medien macht mit bei dem Spiel. Die Zeitschrift Elsevier brachte gar das Kunststück fertig, Rutte als Opfer böser Machenschaften darzustellen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist das Bedürfnis der Berichterstatter unverkennbar, von den unappetitlichen Vorkommnissen der vergangenen Woche endlich wieder zum politischen Alltag zu wechseln. Und selbst eher linke, gelegentlich durchaus kritische Zeitungen wie die Volkskrant sind voll mit Rechtfertigungen für Ruttes Verhalten. So durfte der populäre Schriftsteller Arnon Grunberg auf einer Doppelseite darauf hinweisen, dass andere Regierungschefs ja noch schlimmer seien. Und habe man nicht auch dem Lügner Bill Clinton vergeben?

Wer so argumentiert, muss sich fragen lassen: Was genau ist der Unterschied zwischen Ruttes Lügen und den Tausenden Lügen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump? Vielleicht bloß eine Frage der Quantität?

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