Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Der sechste Mord

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David Amess warb immer für größtmögliche Offenheit der Politik. Ausgerechnet er wurde nun bei einer Bürgersprechstunde ermordet. Das wird Großbritannien verändern.

Von Michael Neudecker, London

Sechs Namen waren sehr präsent am Wochenende in Großbritannien: Airey Neave, Robert Bradford, Anthony Berry, Ian Gow, Jo Cox und nun auch David Amess. Es sind die Namen der sechs Abgeordneten, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Vereinigten Königreich ermordet wurden.

Neave, Bradford, Berr und Gow waren Opfer von Anschlägen der IRA zwischen 1979 und 1990, Cox wurde 2016 von einem Neonazi getötet, als sie gerade auf dem Weg zu ihrer "Surgery" war, so heißen die Bürgersprechstunden der Abgeordneten. Amess wurde am Freitagmittag in seinem Wahlbezirk in Leigh-on-Sea erstochen, als er seine zweiwöchentliche Surgery in einer Methodistenkirche eröffnen wollte.

Es ist auch die scheinbare Beliebigkeit dieser Tat, die betroffen macht. Der mutmaßliche Täter handelte wohl aus einem radikalislamistischen Motiv. Amess war ein langjähriger Hinterbänkler im Unterhaus, ein geschätzter und in Westminster bekannter Abgeordneter, darüber hinaus aber kein landesweit prominenter Politiker. Er setzte sich zuletzt für ein Kinderparlament ein und gegen die Fuchsjagd. Politiker zu sein, genügt schon, um ein potenzielles Ziel von Bedrohungen zu sein, nicht nur in Großbritannien.

Im vergangenen Jahr hat Amess ein Buch veröffentlicht, es heißt "Ayes & Ears: A Survivor's Guide To Westminster", darin reflektiert er auch die Frage, wie sicher Abgeordnete sind. Der Abschnitt trägt den Titel "Von der IRA zu ISIS". Vor allem der Anschlag auf Neave, der 1979 von einer Autobombe getötet wurde, während er die Rampe aus dem Parkhaus am Parlament hochfuhr, habe ihn stets beschäftigt, schreibt Amess: "Immer, wenn ich diese Rampe hochfahre, muss ich an dieses schreckliche Ereignis denken."

Wegen Morddrohungen hatte Amess einen Sicherheitsknopf neben seinem Bett

Die Bombenattentate der IRA haben die Zugänglichkeit des Parlaments und auch des Regierungssitzes in Downing Street verändert. Downing Street ist heute schon am Eingang der Straße mit einem streng bewachten Zaun abgeriegelt; früher war es "eine einfache Sache", als Bürger den Regierungssitz zu besuchen, bedauert Amess in seinem Buch.

Er war bis zuletzt Verfechter der nahezu uneingeschränkten Offenheit - obwohl er bereits als junger Abgeordneter wegen Morddrohungen einen Sicherheitsknopf neben seinem Bett installieren lassen musste. Noch kurz vor seiner Ermordung soll er bedroht worden sein, heißt es, aber er habe nie erwogen, seine Sprechstunde abzusagen.

Amess wollte sich nie einschüchtern lassen, auch jetzt betonen die meisten Politiker zu Recht, am Konzept der Bürgersprechstunden müsse festgehalten werden. Das britische Unterhaus setzt sich zusammen aus den Abgeordneten, die in ihrem Bezirk direkt gewählt werden, auch deshalb ist ihre Zugänglichkeit für ihre regionalen Wähler eine wichtige Tradition in der britischen Politik.

Ein tragischer Vorfall wie der Mord an Amess verändert allerdings immer etwas, allen Beteuerungen zum Trotz. Die Atmosphäre wird künftig eine andere sein, wenn Wähler auf Politiker treffen. Innenministerin Priti Patel wies die Polizei an, die Sicherheit aller Abgeordneter zu überprüfen, zudem würde erwogen, künftig mehr Beamte bei Bürgersprechstunden zu postieren. Auch Durchsuchungen mit Metalldetektoren seien denkbar, schon von nächster Woche an.

Mehr Sicherheit ist ein nachvollziehbarer Reflex, dem sich niemand entziehen kann, wenn etwas Schlimmes passiert. Für das Verhältnis der Briten zu ihren Politikern, das seit dem Brexit-Referendum ohnehin gespaltener ist denn je, ist das jedoch keine gute Nachricht.

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