Süddeutsche Zeitung

Doku-Serie "Porn Culture":Vom Nazi-Fetisch zum Camgirl

Lesezeit: 2 min

Von Julian Dörr

Wer mehr als ein halbes Jahrhundert Kulturgeschichte der Pornografie in eine sechsstündige Doku-Serie packen will, darf natürlich keine Zeit verschwenden. Und deshalb wird man als Zuschauer zu Beginn der ersten Folge der Sky-Produktion Porn Culture auch mit Infos im Sekundentakt durch das Deutschland der Fünfzigerjahre gejagt: Nachkriegselend, fromme Biederkeit, die Brüste von Hildegard Knef, Holocaust-Trauma. Nach gerade einmal fünf Minuten sitzt man plötzlich mit Axel Brüggemann, Moderator, Reporter und Regisseur der Serie, in einem Café in Tel Aviv und bekommt die Geschichte der Stalags erklärt, pornografische Literatur aus Israel, von Juden für Juden, in der Nazi-Frauen Männer foltern.

Moment, ging es nicht gerade eben noch um die Prüderie des Wirtschaftswunderdeutschlands? Auch wenn sich die erste Folge von Porn Culture eigentlich den Fünfzigerjahren widmen soll, geht es erstmal munter weiter durch die Jahrzehnte. Von Nazi-Exploitationfilmen (aus den Siebzigern) über eine uniformierte Domina (von heute) bis zu einem Bundeswehrsoldaten, der aus seinem Mali-Einsatz mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung zurückkehrte. Das alles ist interessant, aber zu einem Gesamtbild, einer Kultur, will es sich nicht so recht fügen.

Erzähltempo und Struktur dieser ersten Folge bleiben auch im weiteren Verlauf der Serie ein Problem. Dabei hat Porn Culture einen ganz klaren Auftrag. Musikerin und zweite Moderatorin Jennifer Weist, bekannt als Frontfrau von Jennifer Rostock, formuliert ihn zu Beginn jeder Expertenrunde, die zwischen den Beiträgen von Kollege Brüggemann zu Wort kommt: "Wir wollen die Wechselwirkungen zwischen Erotik und Politik untersuchen, zwischen pornografischer Kunst und der Gesellschaft."

Wer sich auskennt, erfährt kaum Neues

Tatsächlich wird dann aber mehr aneinandergereiht als untersucht: Kommune I und Benno Ohnesorg, Frauenmörder Fritz Honka und Dirndl-Pornos, Aids, die VHS, Camgirls und Pornosucht, Femen und #MeToo. Spätestens nach der zweiten Folge drängt sich die Frage auf: Für welche Zielgruppe ist diese Doku gemacht? Wer sich auskennt, erfährt in den stereotypen Erzählungen kaum Neues. Alle anderen hingegen sind überfordert von einer wirren Zusammenstellung, die wenig einordnet und gleichzeitig oberflächlich bleibt. Am ärgerlichsten aber sind die Fehler und Ungenauigkeiten, die sich in die historische Aufarbeitung einschleichen. Da wird der Eichmann-Prozess in die Fünfziger verlegt, der Nazi-Shooter Wolfenstein 3D wird zu Doom und Los Angeles zum Zentrum der Hippie-Bewegung.

In der zweiten Hälfte, insbesondere in den Neunzigern, wird die Serie besser, die Gäste werden interessanter, die Themen relevanter. Die wirklich spannenden Diskussionen aber finden neben der ermüdenden Kumpelei von Brüggemanns Reisebeiträgen (Jennifer Weist darf nirgendwo hin) kaum Platz: Wie wurde aus der Kunstform Porno die sexistische und rassistische Industrie der Gegenwart? Wie kann es sein, dass mit Mindgeek ein einziges Unternehmen den Markt der frei verfügbaren Pornografie im Netz dominiert? Und was sagt es über die Deutschen aus, dass sie die weltweit größten Porno-Konsumenten sind? Diese dringlichen Fragen werden von Porn Culture trotz sechs Stunden Laufzeit nur in Nebensätzen angerissen.

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