Süddeutsche Zeitung

Zeitzeugen-App des WDR:"Das darf nie verloren gehen"

Lesezeit: 2 min

Von Hans Hoff

Als Anne Priller Rauschenberg gefragt wird, woran sie sich erinnert, wenn sie an ihre Kinderzeit im Weltkrieg zurückdenkt, hat die Kölnerin ihre Antwort rasch parat. "Eigentlich nur Feuer, Sturm, Hitze, kein Essen, kein Schlaf. Man war still und hat alles über sich ergehen lassen."

Schon vor geraumer Zeit hat die 88-Jährige aufgehört, alles über sich ergehen lassen. Heute spricht sie in Schulen über ihre schweren Tage, erzählt vom Krieg. Und ist nun auch Teil eines Projekts, mit dem der WDR die Schilderungen von Zeitzeugen an junge Menschen heranbringen will. "1933 - 1945. Die WDR History App" nennt sich das Vorhaben, in dem auch Priller Rauschenberg eine gewichtige Rolle spielt.

Sie ist eine von bislang drei Zeitzeuginnen, die man sich wahlweise ins Wohnzimmer oder auch ins Klassenzimmer einladen kann. Man bewegt erst das Handy oder das Tablet ein bisschen im Raum herum, damit sich die Software orientieren kann, und dann sitzen plötzlich die Zeitzeuginnen als Hologramme im jeweiligen Raum und erzählen. Aber damit nicht genug. Wenn sie von Bombennächten im Bunker erzählen, dann sind die Detonationen zu hören; wenn sie vom Feuer erzählen, flirren Funken durch die Luft, und wenn sie von Bombern berichten, dann fliegt plötzlich eine Flotte schwarzer Flugzeuge auf den Betrachter zu.

Noch funktioniert die App nur auf Apple-Produkten, aber von März an sollen auch Android-getriebene Geräte mit den Geschichten der Kriegskinder zu füllen sein. "Wir haben nach einer Form gesucht, die bei Jugendlichen auf dem Handy gut funktioniert", sagt Maik Bialk. Er ist Redaktionsleiter Doku-Digital beim WDR und hat die Schulen als bevorzugten Anwendungsort der App im Auge. Begleitet wird die App von einem dicken Heft mit Unterrichtsvorschlägen, die deutlich machen, wie man das Thema am besten angeht.

Wie viele Spezial-Effekte sind legitim, um auch junge Zuschauer für das Thema zu interessieren?

Bialk ist sich bewusst, dass er sich mit der technisch anspruchsvollen App auf eine Gratwanderung begibt. Einerseits will er transportieren, was die Zeitzeugen zu berichten haben, andererseits will er junge Menschen locken, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Dazu braucht es nach seiner Auffassung Effekte wie die Funken, die Geräusche, die Flieger, um die Nutzer binden zu können. Allerdings wollen solche Eindrücke umsichtig eingesetzt werden. Man schaue genau, ob ein Effekt das Erzählte stützt oder ob er nur Effekt um des Effekts willen sei. Wichtig ist dem WDR stets die reale Grundlage. "Da ist nichts drin, was wir erfunden haben", sagt Bialk.

Neben dem App-Projekt bereitet man im WDR noch ein weiteres Zeitzeugen-Projekt vor. Unter dem Titel "Kindheit im Krieg" sollen demnächst 120 Interviews mit Zeitzeugen abzurufen sein, die 50 ersten im Mai, 70 weitere im September. Dort reicht das Spektrum von einer 14-Jährigen, die vom Syrienkrieg berichtet bis zu den Zeitzeugen des Weltkrieges. Zusätzlich wird der WDR seine Zuschauer und Netznutzer auffordern, auch selbst Zeitzeugen zu interviewen. Dazu wird es eine Anleitung geben, aber auch eine Überprüfung des faktischen Hintergrundes. "Wir prüfen jede einzelne Quelle", sagt die zuständige Redakteurin Jutta Koster, die aber natürlich weiß, dass es endgültige Sicherheit bei Erzählungen aus Erinnerung nie geben wird. "Bei uns bleibt jeder Experte für sein eigenes Leben", sagt sie.

Die perfekte Begründung für beide Projekte liefert Anne Priller Rauschenberg. Die Zeitzeugin hat dazu eine sehr klare Haltung: "Das muss weitergegeben werden. Das darf nie verloren gehen."

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Quelle:
SZ vom 19.02.2019
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