Süddeutsche Zeitung

70 Jahre Grundgesetz:Haute Couture für die Verfassung

Lesezeit: 2 min

Von Heribert Prantl

So ein Grundgesetz hat man noch nie in der Hand gehabt. Es ist keine windige Broschüre, kein steriler Gesetzestext, es steht nicht auf hauchdünnem Papier, es schaut nicht aus wie eine Durchführungsverordnung zum Einkommensteuerrecht. Dieses Grundgesetz ist ein hochwertiges Magazin, 124 Seiten Hochglanz, farbig, mit prachtvollen Bildern. Ein optisches und grafisches Fest, ein Feuerwerk der Schrifttypen und Schriftgrößen. Es ist die Festausgabe zum großen Fest - denn im kommenden Jahr wird das Grundgesetz siebzig Jahre alt.

Das " Grundgesetz als Magazin" kommentiert nichts, es enthält keine beschreibenden, analysierenden, erzählenden Texte. Es enthält neben ein paar guten Infografiken auf den hinteren Seiten nur den blanken Grundgesetztext - aber dessen Artikel sind wunderbar an- und aufgezogen. Das ist Haute Couture für die Verfassung. Es ist das erste Geschenk zum großen Grundgesetzjubiläum. Dargebracht hat dieses Geschenk der Blattmacher, Journalist und Medienentwickler Oliver Wurm, 49, der einst Redakteur bei Sport Bild war und 2009 schon das Neue Testament als Magazin herausgegeben hat; er hat aber auch neue Varianten der berühmten Panini-Sammelbilder erfunden.

Die neueste Idee dieses fantasievollen Kopfs zum Grundgesetz ist verblüffend einfach und verblüffend wirkungsvoll. Man liest die Artikel ganz neu. Gelegentlich fragt man sich, warum der eine Artikel so groß und der andere so klein gesetzt ist - warum etwa die Schlüssel-Vorschrift zum Rechtsstaat so bescheiden dasteht. Es ist der Artikel 19 Absatz 4: Jedem, der "durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt" wird, "steht der Rechtsweg offen". Das ist ein Hammersatz, der aber in Wurms Magazin nur als Hämmerchen erscheint. Gleichwohl: Man entdeckt das von Andreas Volleritsch designte Grundgesetz neu. Illustriert ist es unter anderem mit den Bildern, die der Astronaut Alexander Gerst auf seiner Langzeitmission im Weltraum von Deutschland und Europa gemacht hat: Europa und Deutschland von ganz oben.

Das Grundgesetz hat eine Kraft entwickelt, die ihm einst kein Mensch zugetraut hat

Das Grundgesetz ist kein Poesiealbum. Da wird nicht herumgesülzt. Es ist karg wie die Zeit, in der es formuliert wurde. In den Jahren 1948/49 war niemand nach Feiern und großen Worten zumute. Und in dem Satz, mit dem es beginnt, steckt noch das Entsetzen über die Nazi-Barbarei: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das Grundgesetz ist nicht bombastisch, es trumpft nicht auf, es ist leise. Und trotzdem hat es eine Kraft entwickelt, die ihm einst kein Mensch zugetraut hat. Ohne dieses Grundgesetz wäre das wiedervereinigte Land nicht, was es geworden ist: eine leidlich funktionierende Demokratie, ein passabel funktionierender Rechtsstaat, ein sich mühender Sozialstaat. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht ganz wesentlich beigetragen. Es hat das Grundgesetz, es hat die Grundrechte ausgemalt, farbig gemacht und entfaltet.

Man kann sich das Grundgesetz als eine Art Malbuch, als Ausmalbuch vorstellen. Bei einem Ausmalbuch entsteht aus Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit bunten Farben etwas Kreatives, Individuelles. Das Verfassungsgericht hat, mit den Mitteln der Gesetzesauslegung, aus dem nüchternen Grundgesetz etwas sehr Farbiges gemacht. Das macht nun das Magazin auf seine Weise auch: Es macht die Verfassung farbig. Am besten gelingt das mit den Grundrechten und den Grundsatzartikeln des ersten Teils der Verfassung. Bei den sperrigen Organisationsvorschriften tut sich auch ein Medienentwickler schwer, etwas Farbiges daraus zu machen. Gelänge auch das noch, wäre das Grundgesetz von Wurm nicht nur ein Magazin, sondern ein Wunder.

Seit Dienstag ist das "Grundgesetz als Magazin" auf dem Markt, 100 000 Stück wurden gedruckt, es wird vornehmlich im Bahnhofsbuchhandel vertrieben und kostet zehn Euro. Anzeigen enthält es nicht. Siebzig Unternehmen haben zur Finanzierung beigetragen. Glückwunsch, Grundgesetz!

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Quelle:
SZ vom 29.11.2018
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