Süddeutsche Zeitung

Sachbuch von Jan Böhmermann:Früher fand ich mich mal gut 

Lesezeit: 2 min

Jan Böhmermanns Twitter-Tagebuch ist ein absolut unterhaltsames Porträt einer Ära. Und: Man kann sich beim Lesen an einem Humor wärmen, der ein wenig verloren gegangen scheint.

Von Quentin Lichtblau

"I'd rather be famous / Than righteous or holy any day" - Ich wäre lieber berühmt, als rechtschaffen und heilig, eine Songzeile von Morrissey, ehemaliger Sänger der Smiths, getwittert von Jan Böhmermann im Frühjahr 2010. Also ewig lang her: Mit Barack Obama hatte zwei Jahre vorher erstmals ein Präsidentschaftskandidat die sozialen Medien erfolgreich als Wahlkampfwerkzeug benutzt. Und Morrissey war zumindest öffentlich noch kein meckernder Rassist sondern ein Idol, bei dessen Konzert es Böhmermann gelungen war, mit einem Fetzen eines Morrissey-Hemds nach Hause zu gehen.

Am Tag von Obamas Vereidigung 2009 setzte Böhmermann seinen ersten Tweet ab: "Hunger". Das ließe sich als Ahnung eines wachsenden Geltungsdrangs interpretieren, hing laut Böhmermann aber mit dem Abendbrot zusammen. 25 800 Tweets später erscheint nun Gefolgt von niemandem, dem du folgst - Twitter-Tagebuch 2009-2020, eine kommentierte Auswahl von Böhmermanns Tweets.

Was zunächst wie ein PR-Stunt nach dem Prinzip "Ich drucke das Internet aus" anmutet, liest sich dann doch absolut unterhaltsam. Wenn Böhmermann 2009 aus der Redaktion der Harald Schmidt Show livetickert ("Producer lachen immer noch (Angst vor ausbleibenden Aufträgen)."), kann man sich an einem Humor wärmen, der ein wenig verlorengegangen scheint: Gemein, aber noch nicht so selbstherrlich wie heute. Oder, um im Morrissey-Bild zu bleiben: noch nicht zu righteous und holy.

Der Jan Böhmermann aus dem Jahr 2020 kommt oft ohne doppelten Boden aus

Dazu gibt es ein paar Gags, die man so heutzutage eher nicht mehr machen würde - etwa die Vergleiche zwischen dem Absturz der polnischen Regierungsmaschine 2010 mit dem Ausbruch eines isländischen Vulkans ("Die tausend schönsten Aschegags"). Dass sie trotzdem den Weg ins Buch gefunden haben, kann man Böhmermann andererseits als transparent anrechnen. Beim Blättern zeigt sich außerdem, wie sich die trotz Finanzkrise noch lässig-apolitische Öffentlichkeit verändert - und spätestens 2015 an Ernst und Konflikt gewinnt.

Böhmermanns Twitter-Ich wird selbstkritischer:"Früher fand ich mich mal gut", schreibt er im September 2015, jetzt halte er sich für ein "Arschloch". Twittert er im Juni 2015 noch "Ich mag es, wenn man wenigstens versucht, die Bundeskanzlerin in aktuelle politische Debatten reinzuziehen", heißt es wenige Monate später nach den Pariser Anschlägen: "Warum verspüre ich seit einigen Wochen das Bedürfnis, Angela Merkel Mut zuzusprechen".

Der Ernst der Lage gipfelt dann 2016 in der Erdoğan-Affäre, in der Böhmermann der Bundeskanzlerin vorwirft, seine Arbeit "gegenüber einem wannabe-Diktator zu Verhandlungsmasse" zu erklären. Es wird deutlich, dass die vermeintliche Kunst des Drüberstehens - nicht nur für Böhmermann - offenbar zusehends weltfremd geworden ist. Dass auf der anderen Seite in dieser Ära auch mehr menschenfeindliche Positionen auch bekannt als "Hass im Netz" zu Tage kamen, ist nicht schön, aber nicht die Schuld von Twitter, Böhmermann oder Merkel.

Man hat vielleicht einfach lange weggehört: Zum Beispiel bei Morrissey, der heute mit der rechtsextremen "For-Britain"-Bewegung sympathisiert - und sich nach Kritik nun wie viele der Kunstfreiheit beraubt fühlt. Der neue, nun oft ohne doppelten Boden auskommende Jan Böhmermann von 2020 hätte hierzu folgenden Tweet anzubieten: "Die Kunstfreiheit ist kein Busch, hinter dem man sich verstecken kann. Sie ist eine Säule, auf die man sich zu stellen hat."

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