Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Die sagenhafte Insel

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Wer von Britannien aus sechs Tagesfahrten nach Norden unternimmt, landet in Thule, hieß es einst. Über eine uralte Suche.

Von Florian Welle

Wer denkt beim Namen Thule nicht spontan an Goethes Ballade "König von Thule". Auf seinem "Schloss am Meer" trauert er seiner verflossenen Buhle nach, von der ihm nur ein goldener Becher geblieben ist. Der König: die personifizierte Treue über den Tod hinaus. Geschichtsinteressierten kommt bei Thule vielleicht als erstes die antisemitische Thule-Gesellschaft in den Sinn, die nach dem Ersten Weltkrieg in München den Nazis den Weg ebnete. Comic-Liebhaber wiederum könnten die Abenteuergeschichten von Prinz Eisenherz, dem Wikingerprinzen aus Thule, hervorziehen, die Hal Foster in den Dreißigerjahren erdacht und illustriert hat.

Als aus unterschiedlichen Richtungen aufgeladener Mythos geistert das sagenhafte Land hoch oben im Norden und damit am Ende der damals bekannten Welt seit Jahrhunderten durch die Geschichte. Sein Ursprung geht auf eine Reise zurück, die tatsächlich stattgefunden hat. Um 330 v. Chr. stach der Grieche Pytheas in See und stieß schließlich "sechs Tagesreisen nördlich von Britannien" auf festen Boden, wie es rund 300 Jahre später in der "Geographie" des Strabon heißt. Das Werk des Geschichtsschreibers ist eine der Quellen, die von Pytheasʼ Entdeckung eines Landes beziehungsweise Eilandes namens Thule berichten.

Womit die Probleme schon beginnen. Denn bis auf eine einzige Ausnahme stammt alles, was wir über die spektakuläre Fahrt wissen, mindestens aus zweiter Hand, weshalb bis heute darüber debattiert wird, wo Thule geographisch genau gelegen haben könnte. Wo landet man, wenn man von Britannien aus sechs Tagesfahrten nach Norden unternimmt? Auf den Shetland- oder Färöerinseln? In Island? Oder doch eher in Norwegen? Auf der Carta Marina von 1539, dem bekanntesten Bild der mythenumwobenen Insel, liegt sie eingerahmt von phantastischem Getier nordwestlich der Orkney-Inseln.

Pytheas' Werk "Über den Ozean" ging schon in der Antike verloren

Zwar verfasste Pytheas nach seiner Rückkehr einen Bericht. Er trug den Titel "Peri tou Okeanou", "Über den Ozean". Das Werk ging jedoch bereits in der Antike verloren und ist nur in fragmentarischen Schnipseln anderer Autoren wie Strabon zu erschließen, dem wir die meisten Beschreibungen zu Pytheas verdanken. Doch was ist von einem zu halten, der seinen Vorgänger als den "lügenhaftesten Menschen" schmäht? Eine weitere Quelle ist Plinius d. Ältere, der Pytheas in seiner "Naturgeschichte" erwähnt.

Die einzige Originalaussage findet sich in der "Eisagoge" des Geminos von Rhodos, der um 70 v. Chr. gelebt hat. Sie lautet: "Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt. Denn es traf sich, dass die Nacht in diesen Regionen sehr kurz war, in einigen zwei, in anderen drei Stunden, so dass die Sonne nach dem Untergang binnen kurzem gleich wieder aufging." Pytheas beschreibt hier die Mitternachtssonne, was allein schon bemerkenswert ist. Noch wichtiger an dem Zitat ist jedoch die Information, dass Thule schon damals besiedelt gewesen zu sein scheint. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass Island als Ort für Thule ausscheidet, da es zu Pytheasʼ Lebzeiten noch gar nicht besiedelt war.

Wer war dieser Pytheas, der mit seiner Reise weit über Schottland hinaus die Vorstellungskraft der Menschen von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart beflügeln sollte? Über sein Leben ebenso wie über den Grund für seine Fahrt kann man nur mutmaßen. Die Absicht, als Entdecker Berühmtheit zu erlangen, dürfte jedenfalls kaum dahintergestanden sein. Geboren wurde er um 380 v. Chr. in Massalia, damals eine wichtige griechische Handelskolonie, aus der das heutige Marseille hervorging. Stammt er also aus einer Kaufmannsfamilie, die zum Beispiel Zinn und Bernstein aus dem Norden bezog? Und machte er sich später deshalb von seiner Heimat aus auf, um neue Handelsrouten zu finden? Oder handelte er als Kapitän, im Auftrag anderer? So oder so war Pytheas ein gebildeter Mann, bewandert in Schifffahrtskunde, Geografie, Astronomie.

2010 legte ein Team um den Altertumswissenschaftler Andreas Kleineberg und den mittlerweile verstorbenen Geodäten Dieter Lelgemann das Buch "Germania und die Insel Thule" vor, in dem die Seereise des Pytheas rekonstruiert und Thule als Smøla, eine Insel vor der Bucht von Trondheim, identifiziert wurde. Grundlage für die Erkenntnisse war die Korrektur fehlerhafter Koordinatenangaben, die der Universalgelehrte Klaudios Ptolemaios im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinem Atlas "Geographike Hyphegesis" gemacht hatte.

Diese These ist nicht unwidersprochen geblieben. Warum sollte sich unter der Vielzahl norwegischer Inseln ausgerechnet hinter dem kleinen Smøla das gesuchte Thule verstecken, wurde nachgehakt. Andere hinterfragten unter anderem die Berechnungen der Reisedauer. Der Teufel steckt hier im Detail. Von welchem Ausgangspunkt aus misst man eigentlich die erwähnten "sechs Tagesreisen" und welche Maßeinheit legt man zugrunde? Wie schnell segelte Pytheas? Dies sind nur einige Fragen, auf die es eine Antwort zu finden gilt. Nach anderen Berechnungen ist das Thule des Pytheas kein Ort, sondern ein norwegisches Gebiet westlich des Skandinavischen Gebirges zwischen circa 63°20' und 66°16'Breite.

Wo genau die legendäre Insel zu verorten ist, wird wohl bis auf weiteres für Diskussionen sorgen. Doch gerade weil diese Frage seit der Antike Raum für Spekulationen ließ, konnte Thule überhaupt zum Mythos werden. "Denn das Vermächtnis seiner Reise ist nicht die Entdeckung einer Insel, es ist die Schaffung eines Raumes, der mehr als zwei Jahrtausende lang mit Träumen vom Norden ausgefüllt worden ist", schrieb der schottische Autor Malachy Tallack. Bedenkt man, was die völkische Rechte Krudes daraus zimmerte, muss man die "Träume vom Norden" sicherlich um die "Albträume vom Norden" ergänzen.

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