Süddeutsche Zeitung

Suizid des eigenen Kindes:Kein Tag ohne Luis

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Wie kann man weitermachen, wenn der Sohn sich das Leben genommen hat - und kein Abschiedsbrief Antworten gibt? Man muss verzeihen, sagt sein Vater.

Protokoll von Anna Fischhaber

Der jüngste meiner drei Söhne heißt Luis. An einem Sonntagmorgen Mitte Oktober hat er sich das Leben genommen. Einfach so. Eine Woche vor seinem Tod hat er sich eine Jeans gekauft, drei Tage vorher das neue iPhone. Einen Abschiedsbrief gab es nicht, nur einem Freund hat er noch eine Nachricht geschrieben: "Du bist wie ein Bruder."

Wenn ich heute durch die Stadt gehe, denke ich manchmal: Da läuft Luis (Name geändert). Nur für einen Moment. Dann fällt es mir wieder ein. Luis bleibt 19, für immer jung. Aber davon hat er nichts. Er ist tot. Seit drei Jahren schon.

Für uns kam sein Tod aus dem Nichts. Als Eltern denkt man nach so einem Suizid natürlich: Was haben wir falsch gemacht? Irgendetwas müssen wir doch falsch gemacht haben. Ich bin zurückgegangen bis ins Babyalter. Aber da ist nichts. Nur kurz vor dem Abitur, da wollte er plötzlich die Schule hinschmeißen. Warum, das hat er nie so richtig gesagt. Ich vermute, er hatte Angst, dass er nicht besteht und sich alle lustig machen. Erst haben wir gesagt: "Drei Monate vor dem Abitur, das ist Irrsinn." Aber er wollte nicht. "Na gut, dann wartest du halt ein Jahr", habe ich gesagt. "Oder du machst was anderes." Für mich war das nicht so wichtig, aber in seiner Clique hatten alle Abitur. Sechs Wochen ist er daheim geblieben.

Dann ist er zu einem Therapeuten, fünf Stunden lang, und hat sich umentschieden. Er hat das Abitur doch gemacht. Mit 2,6. Gar nicht so schlecht dafür, dass er so lange nicht in der Schule war, hab ich damals noch gedacht. Ein halbes Jahr später war er tot.

Natürlich haben wir uns damals Sorgen gemacht wegen der Schule. Als Eltern macht man sich immer Sorgen. Ein Unfall, eine Krankheit, es kann so viel passieren. Aber Suizid? Luis war gesund. Er hat nie Medikamente genommen oder war in der Psychiatrie. Er war nicht zurückgezogen, kein Einzelgänger. Im Gegenteil: Er hatte viele Freunde. Er war fröhlich, und er war traurig wie jeder Junge. Klar, er hatte auch Probleme, die Schule, Liebeskummer, alltägliche Sorgen. Aber deshalb bringt sich einer doch nicht um?

"Er war nüchtern. Er wusste, was er tat"

Kurz nach dem Abitur hat er seine Freundin kennengelernt, die erste große Liebe. Mit ihr war er im Sommer am Gardasee, dann ist die Beziehung auseinandergegangen. Jeder, der schon mal Liebeskummer hatte, weiß, wie weh das tun kann. Aber er weiß auch, dass es vorbeigeht. Luis wusste es nicht. Ein paar Tage nach seinem Tod haben wir uns mit seinen Freunden getroffen und geredet, was passiert ist in dieser letzten Nacht. Sie waren in einer Kneipe. Die Freundin war auch da, sie haben gestritten, dann war endgültig Schluss. Ich dachte erst, er hat zu viel getrunken. Aber er hatte nur 0,8 Promille. Auch der Bluttest hat nichts ergeben, keine Drogen. Er wusste, was er tat.

Es war natürlich nicht nur der Liebeskummer. Es war auch Angst. Angst vor dem Leben, vor der Zukunft. Von seinen Freunden haben wir später erfahren, dass er sich Sorgen gemacht hat. Er wusste nicht, was er studieren soll. Er wollte viel Geld verdienen mit wenig Aufwand. Aber das ist auch nicht so einfach. Er war in einer Clique, in der es viel um Geld und Autos ging, darum, dass man im Club auch mal eine Flasche für ein paar Hundert Euro zahlen kann. Die hatte er natürlich nicht. Am liebsten wollte er Profifußballer werden, aber da hat er sich überschätzt. Er hat gut Fußball gespielt, aber es hat nicht gelangt. Das war der erste Dämpfer.

In meiner Jugend hat gezählt, wer am besten aussieht, wer was erreicht. Bei seinen Freunden ging es viel darum, was der Papa ist. Arzt, Fabrikbesitzer oder noch besser: Prominenter. Wie viele Autos er hat, wie viele Häuser und wo. Meine Frau hat auch ein Haus in einer noblen Gegend. Ich bin Busfahrer. Oder war es. Seit zwei Jahren arbeite ich nicht mehr.

Das erste Jahr danach war eine Katastrophe. Es war erst schlimm, dann noch schlimmer und dann ist es wirklich schlimm geworden. "Ich gehe elendig zugrunde", habe ich zu meiner Mutter gesagt. "So geht es nicht weiter", hat sie geantwortet, "du musst endlich mit Luis deinen Frieden finden." Erst habe ich nicht verstanden, was sie meint. Dann habe ich es kapiert. Ich muss Luis verzeihen. Ich war wirklich sauer, dass er sich das Leben genommen hat. Erst habe ich mich dafür geschämt; später in der Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, dass es vielen Eltern so geht. Ich hatte das Gefühl, Luis war alles egal. Er hat an niemanden mehr gedacht, an seine Eltern nicht, an seine Brüder nicht. Er hat einen Trümmerhaufen hinterlassen, hat sein Leben versaut und meins auch. Für uns ist damals die Welt zusammengebrochen. Für die ganze Familie.

Meine Frau und ich haben uns getrennt, da war Luis drei. Er hat bei ihr gewohnt, aber ich bin in der Nähe geblieben. Wir haben uns extra nicht scheiden lassen, haben viel zusammen unternommen. Luis hat oft bei mir übernachtet. Wenn er die Nacht durchgefeiert hat, ist er morgens zu mir gekommen und hat noch ein paar Stunden geschlafen. Dann haben wir gefrühstückt und sind raus in den Wald zur Oma und mit den Hunden spazieren gegangen.

Mein ältester Sohn ist aus einer anderen Beziehung, er hatte nicht so viel Kontakt. Aber für den mittleren, den Leander, war es sehr schlimm. Nachdem ich ausgezogen war, ist er in die Vaterrolle gerutscht. Dabei war er nur drei Jahre älter. Nach dem Tod hat er gedacht, er hat sich nicht gekümmert. Er ist zusammengebrochen, musste für ein paar Wochen in die Klinik. Leander ist so sensibel. Luis war anders, er hat sich nichts gefallen lassen. Er wirkte so stark. Er war natürlich auch sensibel. Wie sensibel, das haben wir zu spät gemerkt. Heute denke ich, man muss mit seinen Kindern auch über Suizid sprechen. 10 000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben, darunter Hunderte von Jugendlichen. Und viele Kinder denken daran. Ob Luis daran gedacht hat? Ich weiß es nicht. Mit der Familie hat er nie darüber geredet.

Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Nicht, weil ich etwas gemacht habe, sondern weil ich so viel nicht gemacht habe. Wir haben uns gut verstanden, das immer, aber es hätte enger sein können. Ich hätte mehr auf ihn eingehen können. Mehr über meine Sorgen reden, vielleicht hätte er sich dann leichter getan. Das würde ich jetzt anders machen. Damit er mehr Vertrauen hat. Aber wer bespricht mit 19 Jahren schon seine Probleme mit den Eltern?

Man fragt die Kinder ja immer: "Ist alles okay?" "Ja klar", sagen sie. Aber nichts ist okay. Auf Luis musste ich oft zwei Stunden einreden, damit er gesagt hat: "Da habe ich ein Problem." Aber das waren oft Kleinigkeiten. Zwei Tage vor seinem Tod hab ich ihn gefragt: "Wie geht es?" Ich wusste schon, dass er Stress mit der Freundin hat. "Passt schon", hat er gesagt. "Fahren wir am Sonntag zur Oma, gehen wir mit den Hunden in den Wald und reden?", hab ich gefragt. "Gute Idee", hat er gesagt, "dann komme ich Mittag raus." Ich hab ihm ein Bussi gegeben. Ich bin froh, dass ich das noch gemacht habe.

Er ist nicht mehr gekommen. Ich glaube nicht, dass es geplant war. Es war eine spontane Entscheidung. Luis war so. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, musste das sofort sein. Kurz vor seinem Tod hatte er die Idee, für ein Jahr nach Berlin zu gehen. Noch am selben Tag wollte er von uns wissen, ob wir ihn finanziell unterstützen. Ich glaube, mit seinem Suizid war es ähnlich. Er hatte die Idee und hat sie umgesetzt. Sofort. Wenn er einen Tag gewartet hätte, wäre er vielleicht nie wieder auf die Idee gekommen. Wenn er nur angerufen hätte. Er wusste doch, dass mein Handy an ist nachts.

Heute bin ich viel draußen. Irgendwann wird meine Lebensversicherung aufgebraucht sein. Dann muss ich wieder arbeiten. Am liebsten würde ich neu anfangen. Als Busfahrer muss man immer freundlich sein, das bin ich nicht mehr. Der Tod hat mich so viel Kraft gekostet. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, keine Menschen mehr sehen, keine Kinder, vor allem keine Väter mit Kindern.

"Die Fotos habe ich alle weggepackt, ich kann sie nicht sehen, nicht ständig."

Was mir geholfen hat? Die Selbsthilfegruppe "Verwaiste Eltern". Seit zweieinhalb Jahren gehe ich dort hin, alle zwei Wochen. Erst dachte ich: Was sind das für Menschen? Wenn sich das Kind das Leben nimmt, ist das keine gute Bilanz. Ich dachte, vielleicht sind da alle geschieden in der Gruppe, wie wir, das ist ja immer schlecht. Aber so war es nicht, das sind ganz normale Eltern, die Mutter Lehrerin, der Vater daheim, das Kind Abitur. Ich war so froh, dass sie normal sind.

Wenn wieder jemand Neues kommt und über sein totes Kind erzählt, halte ich das oft kaum aus. Aber danach geht es mir immer besser. Ich kann alles sagen. Und ich habe gelernt zu verzeihen. Mir selbst. Und Luis. Anderen habe ich nie Vorwürfe gemacht. Nur uns. Ihm, weil er das getan hat, und mir, weil ich so viel nicht getan habe. Seit ich verziehen habe, geht es mir besser.

Manchmal bin ich trotzdem wieder sauer. Dann denke ich: Warum hat er das getan? Wenn ich alles anders gemacht hätte, wäre es anders gekommen? Ich weiß es nicht. Aber das bringt ja nichts im Nachhinein. Das muss man irgendwann abhaken, sonst wird man verrückt. Wieso jemand Suizid begeht, das kann man nicht begreifen, nur irgendwann akzeptieren.

Heute kann ich damit leben, aber es ist ein anderes Leben. Es vergeht kein Tag ohne Luis. Wenn ich zu Hause bin, ist da die Trauer. Obwohl hier erst einmal nichts an ihn erinnert. Ein Zimmer hatte er bei mir nicht, dafür ist die Wohnung zu klein. Die Fotos habe ich alle weggepackt, ich kann sie nicht sehen, nicht ständig. Natürlich schaue ich sie ab und zu an. Sein Sterbebild, er als kleiner Junge, die Bravo-Foto-Lovestory, in der er mitgespielt hat. Das letzte Foto von ihm mit seiner Freundin im Urlaub. Das ist mein Lieblingsbild.

Natürlich gibt es auch normale Momente in meinem Leben; wenn ich unterwegs bin, kann ich auch lachen. Aber die Unbeschwertheit ist vorbei. Ich gehe zum Beispiel nicht mehr auf Konzerte und singe mit. Vielleicht kommt das wieder, ich weiß es nicht. Aber ich weiß jetzt, was wichtig ist. Nicht das Materielle, sondern Familie, die Kinder. Und ich schaue mehr auf mich. Das ist das einzig Positive.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten. Grund dafür ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide. Eine Ausnahme sind Berichte, die das Leid der Angehörigen thematisieren, weil sie auch präventiv wirken können. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten. Die Verwaisten Eltern in München sind unter www.ve-muenchen.de zu erreichen, bundesweit ist der Verband unter www.veid.de organisiert.

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Quelle:
SZ vom 03.03.2018
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