Süddeutsche Zeitung

Stilkritik: Der Plastik-Weihnachtsbaum:O Plastikbaum

Die traditionelle Tanne in der Berliner Innenstadt ist dieses Jahr aus Plastik. Warum schafft die Hauptstadt Weihnachten nicht gleich ganz ab?

Martin Zips

Der naturgewachsene Weihnachtsbaum aus Bayern war den Berlinern nicht gut genug, den haben sie an die Elefanten im Zoo verfüttert. Nun also Plastik, 27 Meter hoch, ab Mitte November vor der Gedächtniskirche. Was soll man von einer geschmacksverirrten Currywurst-Stadt auf dem Boden einer Grundmoränenlandschaft auch anderes erwarten?

Zwischen ARD-Hauptstadt-Studio, Madame Tussauds, Adlon-Kitsch und Sowjet-Mützen ist so ein Plastikbaum sehr gut aufgehoben. Wer Wert auf Natur legt, der kann ja im Neuen Museum das eiszeitliche Elchskelett streicheln gehen oder am Sophie-Charlotte-Platz die Hunde füttern. Von den 3,4 Millionen Berlinern sind neun Prozent katholisch, 21 evangelisch und 59 Prozent konfessionslos - da sollte man Weihnachten gleich ganz abschaffen. Aber dann könnte der Berliner nicht mehr so ausgelassen mit blinkenden Santa-Claus-Mützen über den Alex hüpfen, bei Manufactum, Leysieffer oder Dussmann sein Geld für Weihnachtsschmonzes ausgeben oder an gleich zwei christlichen Feiertagen im Borchardt Austern schlürfen gehen.

Wer spirituell zur Ruhe kommen möchte, dem empfehlen wir den kreisförmigen Wandelgang am Flughafen Tegel oder Promi-Watching am Heiligen See. Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands, und Deutschland, das sind wir. Verschließen wir uns diesen Fakten nicht. Dann hat Plastik eine Zukunft.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2010/holl
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