Sisa-Süchtige in Griechenland:Droge der Krise
Lesezeit: 7 Min.
Unter Griechenlands Junkies verbreitet sich Sisa - eine alles zerstörende Chemie-Droge, die leicht herzustellen und extrem billig ist. Ein starkes Argument in einem Land, dessen Bewohner sich nichts mehr leisten können. Und das genauso grausam vor die Hunde geht wie die Sisa-User.
Von Alex Rühle, Athen
Das Zeug muss der Teufel persönlich zusammenbrauen, irgendwo tief unten in seinen Höllenkesseln. So klingt es jedenfalls, wenn Leonidas, Ismail und Christos davon erzählen. "Das frisst dich von innen auf", sagt Ismail. "Es macht dich böse", sagt Leonidas, "richtig böse." Christos widerspricht lachend: "Wenn du Sisa* nimmst, weißt du gar nicht mehr, was böse überhaupt bedeutet. Das lässt einfach nur das Tier in dir von der Kette."
Christos strahlt eine nur schwer zu bändigende Aggressivität aus, seine rechte Wange zuckt, wenn er spricht, es wirkt, als fließe eine Menge Strom durch seine unterirdischen Leitungen. Immer wieder bündelt er mit einer Faust seine Haare im Nacken, als würde ihm das helfen, sich zu fokussieren. "Ich bin eher der Typ, der sich holt, was er braucht", sagt er, "betteln ist unter meiner Würde." Christos wurde wegen Banküberfällen zu zehn Jahren Haft verurteilt und ist seit fünf Jahren wieder draußen. Wie viele Banken hat er denn überfallen? Er zuckt zurück, hält kurz inne mit dem manischen Haarebündeln und knurrt: "Werd' ich dir bestimmt nicht sagen. Aber verurteilt wurde ich für drei."
Leonidas, Ismail und Christos sitzen im Hinterhof von Kethea Exelixis, einem Therapiezentrum für Drogenabhängige, mitten im Zentrum von Athen, und reden über Sisa*. Das "Kokain der Armen", die neue Droge im krisengeschüttelten Griechenland ( hier eine Doku von Vice News). Die drei wissen sehr gut, wovon sie reden, wenn sie Sisa mit anderen Drogen vergleichen. Sie haben in ihrem Leben so ziemlich alles durchprobiert.
Leonidas ist 40, sieht aber mindestens 15 Jahre älter aus; Drogen nimmt er seit seinem 13. Lebensjahr. Christos ist seit seiner Gefängniszeit heroinabhängig. Er behauptet zwar, jetzt nur noch sporadisch zu spritzen, aber seine Unterarme verraten, dass das wohl nicht stimmt. Jedenfalls sagt er: "Heroin ist ja schon zehnmal stärker als du selber. Ich habe sechs Jahre aus meinem eigenen Leben ausgecheckt. Es gab damals nur noch den Stoff für mich, sonst nichts, nicht mal Sex. Aber Sisa - das ist der wahre Albtraum."
Dieser Albtraum kann in jeder Küche zusammengerührt werden: Man braucht dafür Metamphetamin, bekannt als Crystal Meth. Crystal Meth gehört für sich genommen schon zu den zerstörerischsten Drogen überhaupt: Es führt extrem schnell zu psychischer Abhängigkeit, und würde man hier alle mit dem Konsum einhergehenden Verfallssymptome auflisten, es wäre kaum noch Platz für diese Geschichte. Pars pro toto sei der "Meth-Mund" genannt: Die Zähne fallen aus, weil die Speichelproduktion zurückgeht und die meisten Konsumenten anfangen, stark mit den Zähnen zu knirschen.
Dieses Crystal Meth wird in den Athener Küchenlabors mit Batteriesäure versetzt. Wenn die nicht zu haben ist, kann man auch Chlor, Shampoo, Motoröl, Kerosin oder Calgon nehmen. Auch Strychnin und Schwefelsäure aus Goldschmiedewerkstätten wurde schon in Sisa-Proben gefunden. Schwefelsäure ist so ätzend, dass sie Holz, Papier und Textilien auflöst.
Das Verlockende an der Droge ist ihr Preis: Da Sisa so leicht herzustellen ist (die Dealer haben mobile Labore, was es auch für die Polizei schwerer macht), kostet eine Dosis nur zwischen zwei und fünf Euro. Ein fast unschlagbares Argument in einem Land, in dem selbst Ärzte nur noch 900 Euro verdienen.
Was Ismail, Christos und Leonidas aber von der Wirkung dieser Droge erzählen, klingt so, als würde man ein Medizinlexikon mit einem Horrorfilm zusammenschneiden: Spasmen, Blutspucken, rasend schneller Verfall, psychotische Gewaltexzesse. Warum die Gewaltexzesse? "Naja", sagt Christos, "das Tier in dir - du willst einfach zuschlagen, wenn du das Zeug im Blut hast." Ismail erzählt von einem Freund, der 13 Tage nicht geschlafen habe, und alle stimmen darin überein, dass es in der Drogenszene viel aggressiver zugehe als noch vor zwei Jahren.
Okay. Wenn alle wissen, wie grauenhaft dieses Zeug ist, warum nehmen es dann trotzdem so viele? Christos zuckt die Achseln: "Ist eben die Droge der Krise. Das Land geht genauso grausam vor die Hunde wie die Sisa-User. Passt zusammen."
Charalambos Poulopoulos schaltet sich ein. Der Mittfünfziger mit seinem streng nach hinten gekämmten Haar und dem braunen Hemd leitet die landesweite Suchthilfe-Organisation Kethea seit vielen Jahren. Er sagt in Ergänzung zu Christos, sie könnten kaum noch Abhängige davon überzeugen, Entzugsprogramme zu machen. Zu sehr komme den Drogenkranken die ganze Krise vor wie ein in der Realität ablaufender Horrortrip.
Man kann es ihnen kaum verdenken: Tag für Tag stürzen neue Negativmeldungen auf die Griechen ein. Das Bruttosozialprodukt ist weiter gesunken, es gibt neue Arbeitslosigkeitsrekorde, und der Indexbetreiber MSCI hat Griechenland soeben als erstes entwickeltes Land vom Status eines Industrie- auf den Status eines Schwellenlandes herabgestuft.
Kurzum: Der ehemalige Witz, Griechenland sei das erste afrikanische Land mit weißer Bevölkerung, trifft mittlerweile für viele Lebensbereiche tatsächlich zu. Vergangenes Jahr zog die griechische Sektion der "Ärzte der Welt" alles Personal aus dem Kongo und aus Äthiopien ab. Grund: Griechenland sei nach den eigenen Standards inzwischen selbst Katastrophengebiet. Apropos Afrika, in Griechenland häufen sich Ausbrüche von Malaria, West-Nil- und Dengue-Fieber. Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe ("Tripper") und Condylomata acuminata ("Feigwarzen"), Krankheiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerottet waren, sind wieder auf dem Vormarsch. Und die HIV-Infektionsrate ist in den vergangenen zwei Jahren um 1500 Prozent gestiegen. 1500? Kann nicht sein, gemeint waren 150, oder? Doch, sagt Poulopoulos: "2008 hatten wir 15 Neuinfektionen. 2011 waren es 200, im letzten Jahr dann über 500. Und alles, was wir tun können, ist Spritzen einsammeln."
Die Keramikou-Straße. Dienstagabend, Nieselregen. An der Straßenecke blinken die Neonlichter eines Bordells. In den heruntergekommenen Hauseingängen lungern obdachlose Junkies. Elendspolaroids: Die junge Frau, die sich von einem strubbeligen Mann mit öligen Fingernägeln einen Schuss unter die Zunge setzen lässt. Der Schwarze mit den weit aufgerissenen Augen, der in einen leeren Betonkübel starrt. Oder die Schwangere mit dem offenen Bein, die mit vier Spritzen in der Hand die Straße runterhumpelt. Auf Fragen reagieren sie nicht: Wie oft sie Sisa nehmen? Ob sie wissen, was da genau drin ist? Wo sie herkommen? Der Mann mit dem stieren Blick wischt in der Luft umher, als wolle er die Stimmen wie Mücken verjagen. In dem Moment kommt ein olivgrüner Bus um die Ecke und hält an. Plötzlich scheint die ganze Straße energiegeladen. Die Seitentür des Busses ist noch gar nicht auf, da kommen aus den Hauseingängen zerlumpte Gestalten angelaufen. Alle haben sie Spritzen in der Hand.
Der Kethea-Bus kommt jeden Abend. Sechs Streetworker fahren darin Tag für Tag die Hotspots der Stadt an und verteilen saubere Spritzen. Jeden Abend ist es dasselbe Spiel: Wer eine Nadel bringt und seinen Namen nennt, bekommt dafür ein neues Set. Spritze, Nadel, Desinfektionstuch, Alukappe zum Kochen. Die Junkies müssen die Spritzen vorzeigen und selbst in einen roten Abfalleimer werfen, dann bekommen sie so viele neue, wie sie gebracht haben. Dieser Tauschhandel ist die einzig wirksame Methode, um bereits benutzte Nadeln wieder von der Straße zu bekommen. Das ist für sie alle in Zeiten der Aids-Explosion überlebensnotwendig.
Aber warum gibt es derart viele HIV-Infektionen? Eleni Marini zeigt die Straße runter, wo das Pufflicht vor sich hin blinkt. "Die Prostitution hat genauso stark zugenommen wie die Obdachlosigkeit. Frauen, die nichts mehr haben, können immer noch ihren Körper verkaufen. Manche machen's für fünf Euro", sagt Marini. "Ungeschützt gibt's für das Doppelte." Zehn Euro, um sich dann vielleicht Aids zu holen.
Und da ist Sisa. Die neue Droge fördert bestimmt nicht die Potenz, aber die Lust. "Auf Sisa willst du drei Sachen: Sex, Sex und Sex", hatte Christos im Hinterhof von Kethea gesagt. Und wer sich Batteriesäure spritzt, achtet nicht mehr darauf, ob er ein Kondom benutzt.
Eleni Marini wirkt müde. Die Psychologin, die in Großbritannien studiert hat und seit zwölf Jahren bei Kethea arbeitet, schaut einem Junkie zu, der am Bus erklären will, warum er nur zwei Nadeln dabei hat, eine der vielen hanebüchenen Geschichten, die sie an diesem Abend erzählt bekommt. Eigentlich seien es drei, aber sein Freund . . . Marini weiß, dass der Mann mehr Spritzen bräuchte: Die Junkies verteilen den Stoff, den sie sich leisten können, auf mehrere Schüsse. Aber sie kann ihm nur so viele geben, wie er bringt. Also wird der Mann alte Nadeln benutzen. Liegen ja genug rum in dieser Stadt.
2008 arbeiteten 500 Leute bei Kethea, heute sind es fast 100 weniger. Die Sozialarbeiter, Ärzte und Psychologen, die noch dabei sind, verdienen die Hälfte von dem, was sie einst bekamen. Sie sprechen nicht davon, geht schließlich allen so. Aber es ist verheerend. Das Gesundheitssystem muss in Zeiten, in denen aufgrund des psychischen Dauerstresses die Selbstmordrate genauso steigt wie die chronischen Krankheiten, immer noch mehr sparen. Krankenhäuser schließen, es gibt in einigen OP's keine Handschuhe mehr, und selbst eine Zahnärztin, die ihre Praxis im reichen Vorort Cholargos betreibt, erzählt, es gehe in ihrem Sprechzimmer "zu wie auf dem Basar: Die Leute können sogar einfache Füllungen nicht mehr zahlen. Da sind Professoren darunter, Unternehmer, das, was früher mal die Mittelklasse hieß."
Eleni Marini teilt weiter Spritzen aus. Ein ganz normaler Abend, 70 bis 80 Junkies kamen bisher vorbei, es ist ruhig. Als aber ein Polizeiauto vorbeifährt, verschwinden alle sofort. Kein Wunder, bei dem, was Ismail am Tag zuvor erzählt hat.
Ismail, das war der Dritte im Hinterhof, ein stiller Iraner, der vor 13 Jahren zu Fuß über die Türkei nach Athen kam und hier als Schneider lebt. "Damals war das hier Hawaii für mich. Jetzt bekomme ich nur noch 1,80 Euro die Stunde. Und hab jeden Abend Angst."
Ismail war auch deshalb so still, weil er erschöpft war von einer seiner langen Nachtwanderungen: Die Polizei hat die strikte Anordnung, die Stadt sauber zu halten. In die Gefängnisse kann sie die Drogenabhängigen nicht stecken, kostet schließlich Geld. Also karren sie alle, derer sie habhaft werden, einfach aus Athen raus und laden sie irgendwo ab. So gibt es mittlerweile einen absurden Pendelverkehr: Die Polizeibusse, die voll beladen manchmal 80 Kilometer ins Nirgendwo fahren. Und die Abhängigen, die neben der Standspur zu Fuß in Richtung Stadtzentrum zurücklaufen. Ismail hatten sie dieses Mal am Omoniaplatz eingefangen, sechs Stunden auf einer Polizeistation stehen lassen, als "iranisches Schwein" beschimpft und dann in den Vorort Koropi gebracht.
Das Gesundheitssystem ist so marode, dass nicht mal den Schwerkranken mehr adäquat geholfen werden kann. Der Staat lässt auf die Suchtkranken Jagd machen. Können wenigstens die Familien ihren suchtkranken Verwandten unter die Arme greifen? "Haben sie ja lange gemacht", sagt Eleni Marini. "Aber die können sich ja selbst schon keine Arztbesuche mehr leisten. Es geht hier wirklich ums Überleben. Deswegen ist die Zahl der Obdachlosen so stark gestiegen. Früher hatten die ein Zuhause, jetzt werden sie rausgeschmissen."
Nach einer Stunde muss der Bus weiter zum Omoniaplatz. Die Tür geht zu, nur der Regen bleibt. Am nächsten Morgen wird bekannt gegeben, dass die Arbeitslosigkeit auf das neue Allzeithoch von 27,4 Prozent gestiegen ist.
________________
*Anmerkung der Redaktion: Der Name Shisha kommt aus dem arabisch-persischen Raum und bedeutet einfach nur Wasserpfeife. Auch die neue Droge wurde zunächst in kleinen Pfeifen geraucht, ansonsten hat die Shisha oder Nargile nichts mit der traditionellen Wasserpfeife zu tun. Phonetisch hört sich die Droge in Griechenland allerdings wie Shisha an, wird aber Sisa (Griechisch: ΣΙΣΑ) geschrieben. Wir haben uns dazu entschlossen, entgegen der ersten Fassung des Textes, den Namen Sisa zu verwenden.