Süddeutsche Zeitung

Migration:Darf man sich über den Propheten lustig machen?

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"Integration ab der ersten Stunde": Ein Iraner erklärt Flüchtlingen das Grundgesetz.

Von Dunja Ramadan

Er ist eine Stunde zu früh da, aber er spaziert gerne durch sein "schönes Exil", wie er es nennt. Selbst im windigen Kiel scheint der Frühling angekommen zu sein. Aber Frühling würde der 31-jährige Flüchtling aus Iran das noch nicht nennen. "In Deutschland ist die Sonne wie ein Licht im Kühlschrank. Es ist hell, aber nicht warm", sagt Ehsan Abri und betritt das Klassenzimmer. Langsam trudeln die jungen Leute ein, die Stimmung ist heiter. Als der Lehrer ankündigt, worum es heute geht, ahnt Abri, was gleich kommt. Die Nachfragen, das Unverständnis, das Befremden über diese seltsame, neue Heimat. Die Diskussionen, die manchmal irgendwo hinführen und manchmal eben auch nicht. Doch er überlässt das Wort seinem Freund, dem Arabischlehrer, der die Klasse über das Grundgesetz aufklärt. Heute sollen die jungen Leute, die alle erst vor wenigen Monaten aus Syrien, Somalia und Jemen geflüchtet sind, mehr über die Meinungsfreiheit erfahren.

In ihren Heimatländern darf man nicht einfach sagen, was man denkt, da sind sich alle ziemlich schnell einig. Man muss die Machtstrukturen bedenken, die in der Familie, in der Gesellschaft, im Staat. "Und die Medien, die helfen dabei, diese Machtstrukturen aufrechtzuerhalten", sagt Malak, 21, aus Syrien. Das stimmt, sagt ihr Landsmann Hassan. Der 18-Jährige kippt mit dem Stuhl nach hinten, dann wieder nach vorne. Aber eins könne er nicht verstehen: Meinungsfreiheit müsste doch da enden, wo die Würde des Menschen angegriffen werde. Es könne nicht sein, dass man den Propheten Mohammed aufs Übelste beschimpfe und das als Meinungsfreiheit deklariere, wie 2006 während des Streits um die Karikaturen des Propheten in einer dänischen Zeitung. "Das verletzt mich in meiner Würde als gläubiger Mensch. Und die ist doch laut Grundgesetz unantastbar, oder?", fragt Hassan in die Runde. Seine Mitschüler nicken. Der Lehrer sagt: Das müsse man in Deutschland aber aushalten. Abris Blick wandert durchs Klassenzimmer, er sieht wenig überzeugte Gesichter.

Ein Blick zurück: An seine Heimat Iran hat Abri sehr traurige traumatische Erinnerungen

Es ist eine mühsame Aufgabe, die er sich mit seinem Projekt "New Ways for Newcomers" vorgenommen hat. In den vergangenen drei Jahren besuchten 500 Schülerinnen und Schüler den freiwilligen Kurs. Im Anschluss erhielten sie ein Zertifikat.

Ehsan Abri ist vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen und saß die ersten eineinhalb Monate in Abschiebehaft. Zur Abschiebung kam es am Ende dann nicht, seit 2016 ist er als politischer Flüchtling anerkannt. Heute will Abri den Menschen, die nach ihm nach Deutschland kamen, einen Leitfaden für ihr neues Leben in der Fremde mitgeben. Auch in Integrationskursen werden Neuankömmlinge ab einem bestimmten Sprachniveau über die deutsche Rechtsordnung aufgeklärt. Der Test "Leben in Deutschland" ist auch eine Voraussetzung für eine mögliche Einbürgerung. Doch Abri findet, Geflüchtete sollten erst die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstehen - noch bevor sie die deutsche Sprache lernen: "Integration ab der ersten Stunde, das ist mein Ziel." Deutschland gebe so viel Geld für Integration aus, zeige aber so wenig Kreativität, sagt Abri, der sich als "prowestlich" bezeichnet und bei jeder Gelegenheit den deutschen Philosophen Hegel zitiert.

Sein Projekt gibt es in der Muttersprache vieler Geflüchteter, in Arabisch und Farsi. Unterstützt wird der junge Iraner vom Kieler Landesbeauftragten für politische Bildung und von der Zentralen Bildungsstelle für Migranten. Im März kam sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Schleswig-Holstein, um sich das Projekt anzuschauen. Steinmeier ist Schirmherr für die Reihe "Demokratie ganz nah - 16 Ideen für ein gelebtes Grundgesetz". Ehsan Abri und seine Mitstreiter hoffen, dass ihr Projekt deutschlandweit umgesetzt wird, am liebsten auch in den Erstaufnahme-Einrichtungen.

Den Stundenplan hat Ehsan Abri selbst konzipiert. Er spricht mit Geflüchteten über Demokratie und Menschenrechte, über Frauenrechte, über die deutsche Geschichte und gesellschaftliche Regeln. Felder, auf denen auch in Deutschland noch nicht alles reibungslos läuft - etwa die Gleichberechtigung für Frauen im Beruf - spart der junge Iraner erst mal lieber aus. Er will die Menschen nicht gleich überfordern, sagt er dann. Der Kurs gleiche ja sowieso schon einer Schocktherapie. "Aber diese Menschen brauchen ein Ideal von Deutschland, sonst bleiben die kulturell ganz weit weg. Den Rest lernen sie später von alleine", sagt Abri. Die Idee für "New Ways for Newcomers" kam Abri nach der Kölner Silvesternacht 2015/16, in der viele Frauen vornehmlich von Migranten sexuell belästigt wurden. Er wollte was tun, aufklären.

Sein Projekt erinnert ein wenig an einen Vorstoß, den Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) 2018 angekündigt hatte. Flüchtlingskinder sollten separate Deutschklassen mit Werteunterricht besuchen, forderte Söder damals. Lehrerverbände sahen die Initiative anfangs kritisch. Das mag auch an dem Ton gelegen haben, den Söder anschlug: "In Bayern werden die Werte des christlichen Abendlandes verteidigt", sagte er etwa. Und: "Intoleranz und Antisemitismus gehören nicht dazu." Als müsse man bei Geflüchteten genau davon ausgehen. Inzwischen heißt das Fach "Kulturelle Bildung und Werteerziehung".

An seine Heimat Iran hat Abri traumatische Erinnerungen. Als Jurastudent ging er gegen ein ungerechtes Universitätsgesetz auf die Straße, er wurde festgenommen, sei in der Haft vergewaltigt worden. Er erzählt es ganz nebenbei, beim Spazierengehen. Als er rauskam, fiel er in ein tiefes schwarzes Loch, er durfte nicht weiterstudieren, wie er berichtet. Er ging in Therapie und entschied sich, das Land zu verlassen. Es dauerte ein Jahr, bis er Deutschland erreichte.

"Ich bin auf dieser Welt, weil ich etwas verändern will", sagt Abri. In seinem Klassenzimmer wird häufig ein Idealbild der deutschen Gesellschaft gezeichnet, in der etwa Sexismus, Rechtsextremismus und struktureller Rassismus keine Erwähnung finden. Aber Abri nennt die Schattenseiten in Deutschland oft "Luxusprobleme". Fragen in seinem Lehrplan wie "Welche Bedeutung hat Moral für die Gesellschaft und unser Verhalten?" wirken ganz so, als hätten geflüchtete Menschen keine Werte, die es zu erhalten gilt. Ob Ehsan Abris Kurs der richtige Weg hin zum gelebten Grundgesetz ist, müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohl für sich beantworten.

Hassan jedenfalls bleibt bei seiner Meinung. "Ich werde jetzt nicht auf die Straße gehen und Flaggen abfackeln, wenn solche Karikaturen noch mal erscheinen. Aber für mich gibt es Grenzen bei der Meinungsfreiheit", sagt er. Abri meint dazu: Man könne eben nicht alle überzeugen, aber zumindest wüssten die Neuankömmlinge jetzt, was im Grundgesetz steht.

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Quelle:
SZ vom 04.05.2019
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