Süddeutsche Zeitung

Karneval:Warum es jammerschade ist, dass der Karneval ausfällt

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Der Karneval ist eine fragwürdige Angelegenheit. Doch er hat diese verbindende Kraft, die es Menschen erlaubt, für ein paar Stunden zu verschmelzen.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Für Uneingeweihte muss es tatsächlich ein Graus sein, dieses seltsame Treiben, das sich alljährlich in der dunklen Jahreszeit entlang des Rheins, an Ems und Main, an Mosel und Lahn abspielt. Erwachsene Menschen zwängen sich in peinliche Kostüme, verunstalten sich mit grässlichen Masken, singen Lieder voller Schmalz und Piefigkeit. Sie schunkeln und tanzen, knutschen und lachen mit anderen Perückenträgern, die sie in aller Regel nie wiedersehen werden oder die sich, im schlechteren Fall, am Kater-Tag darauf als der Kollege oder die Frau des besten Freundes entpuppen. Es gibt wahrlich Erstrebenswerteres im Leben.

Und dennoch ist es jammerschade, dass der Karneval in diesem Herbst und Winter weitgehend ausfallen wird. Dass der Sturm auf die Rathäuser an diesem 11.11. aus- und der Alter Markt in Köln weitgehend leer bleibt, weil die Welt von einem Virus heimgesucht wird, das Schunkeln und Tanzen, Knutschen und Lachen wohl auf die Liste der schönsten menschlichen Freizeitbeschäftigungen setzen würde, wenn man es denn fragen könnte. Wo Menschen sich nahekommen, wo Hemmungen fallen und natürliche Distanz sich in vertrauensselige Wohligkeit verwandelt, hat der Corona-Keim freie Bahn.

Der Welt hätte gerade am 11.11.2020 ein bisschen Karneval gutgetan

Ja, der Karneval ist eine fragwürdige, zweischneidige Angelegenheit. Er täuscht gesellschaftliche Gleichheit vor, wo es keine Gleichheit gibt. Er simuliert menschliche Nähe, wo Nachbarn am nächsten Tag wieder achtlos aneinander vorbeigehen. Er ist erstarrt in Ritualen und Vereinsmeierei, die den Altherrenwitz tatsächlich für Humor hält. Und doch hat zumindest der Kneipenkarneval auch diese ungeheuer verbindende Kraft, die es Menschen erlaubt, wenigstens für ein paar Stunden in eine bessere Welt abzutauchen, alle Probleme zu vergessen, zu verschmelzen in einer vielleicht zwar piefigen, aber doch wärmenden Gemeinsamkeit. Er ist Heimkehr in die Stadt, die man sich trotz allem vermeintlichen Kosmopolitismus nie hat aus dem Herzen reißen können, und Rückkehr zu den Liedern, die man als Kind gelernt hat und bei denen noch heute jede Strophe sitzt.

Wann könnten wir das Lustige und Komische, das Groteske und Irrwitzige besser brauchen als in dieser düsteren Zeit der Pandemie, der gesellschaftlichen Spaltung, des Einander-nicht-mehr-Verstehens? Nicht dass der Karneval Gräben zuschütten, Sprachlosigkeit überwinden und Polarisierung beseitigen könnte. Er könnte aber sehr wohl daran erinnern, dass hinter dem Clown und dem Astronauten, dem Hippie und dem Punk jemand steckt, den man sich im grauen Corona-Alltag gerne vom Leib hält und im politischen Streit nur noch als verblendeten Ungläubigen wahrnimmt: ein Mitmensch.

Insofern hätte der Welt gerade am 11.11.2020 ein bisschen Karneval gutgetan. Deshalb auch ohne Rathaussturm: Dreimohl Kölle Alaaf!

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