Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Vor Gericht:Johanna

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Über eine Frau, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und deren Familie alles versucht, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

Von Verena Mayer

Der Stromkasten an der Kreuzung ist bemalt mit dem Bild eines Mädchens, das die Arme zum Himmel hebt. Davor stehen Kerzen und Blumen, bunte Sträuße und Stöcke in mehreren Reihen. Wer an dieser Straßenecke vorbeikommt, bleibt stehen, man kann fast nicht anders. Sieht das Bild und die Blumen, die immer frisch sind, liest die Briefe, die in Klarsichthüllen auf den Stromkasten geklebt sind. Sie sind an Johanna gerichtet, die 2018 an dieser Stelle getötet wurde, sie war 22 Jahre alt. Wer hier steht, merkt, wie ungewöhnlich dieser Ort ist. Wie viel Raum Menschen sich seit vier Jahren für ihre Trauer nehmen, an einer belebten Kreuzung mitten in der Stadt.

Wer oft bei Gericht ist, weiß irgendwann sehr viel über menschliche Abgründe. Man erfährt, warum Verbrechen passieren und was sich die Täter dabei denken. Seltener geht es um die Folgen einer Tat, um die Frage, wie Eltern, Kinder, Freundinnen oder Lebenspartner eines Opfers weiterleben. Manchmal sieht man Angehörige auf der Nebenklagebank sitzen, manchmal im Zuschauerraum. Meistens schweigen sie, weil die Strafprozessordnung sie nicht als Zeugen braucht. Oder die Justiz will erst gar nicht hören, was sie zu sagen haben. Ich habe es schon erlebt, dass ein Richter den Witwer einer getöteten Frau zurechtgewiesen hat, weil er während seiner Aussage vom Thema abkam.

Er trat das Gaspedal durch, eine Kurzschlussreaktion, wie er sagte

Die Familie von Johanna war anders. Ihre Mutter saß an jedem Verhandlungstag auf der Nebenklagebank. Am 23. Prozesstag hat sie sich zu Wort gemeldet, sie hat ein Gedicht für ihre Tochter vorgelesen und erzählt, wie Johanna war. Dass sie soziale Arbeit studierte, sich für Flüchtlinge engagierte und Musik machte. Johannas Mutter verdeutlichte, wie zufällig man zum Opfer werden kann. Johanna wollte gerade die Straße überqueren, als ein Audi A6 mit 160 Stundenkilometern angerast kam. Darin saß Milinko P., 28, mit zwei Verwandten. Er war zu Besuch in Berlin, weil er zu einer Hochzeit wollte. Während die drei durch die Stadt fuhren, beschlossen sie, einen Kleintransporter aufzubrechen und Werkzeugkoffer zu stehlen. Eine Polizeistreife sah das, hielt den Audi an und forderte Milinko P. auf, auszusteigen. Doch der trat das Gaspedal durch, eine Kurzschlussreaktion, wie er sagte. Er verletzte einen Polizisten, durchbrach eine Absperrung und überfuhr Johanna. Sie starb noch an der Straßenecke.

Der Auftritt von Johannas Mutter vor Gericht machte klar, dass manche Taten nie enden, selbst wenn sie gesühnt werden, Milinko P. bekam lebenslang wegen Mordes. Ihr Leben habe sich komplett verändert, sagte sie, sie habe die Kontrolle verloren und fühle sich "nicht mehr von dieser Welt". Das Einzige, was ihr helfe, sei, darüber zu sprechen, über den Schmerz, die Trauer, die Angst und die Überwältigung durch ein Verbrechen. Sich den Raum dafür zu nehmen, und sei es an einer Kreuzung mitten in der Stadt.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

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