Süddeutsche Zeitung

Intersexualität:Ein eigenes Pronomen, Toiletten-Gesetze und "Herm Alex"

Lesezeit: 5 Min.

Das Bundesverfassungsgericht hat gerade ein drittes Geschlecht anerkannt, jetzt ist die Gesellschaft am Zug. Wie gehen andere Länder mit Menschen um, die nicht nur weiblich oder männlich sind?

Von SZ-Korrespondenten

Gerade hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die deutsche Rechtsordnung ein drittes, unbestimmtes Geschlecht anerkennen muss. Schon seit 2013 bietet das Geburtenregister neben "männlich" und "weiblich" die Option, den Eintrag des Geschlechts offen zu lassen. Das geht vielen Intersexuellen - und wie sich nun zeigte auch den Richtern in Karlsruhe - nicht weit genug. Der Gesetzgeber muss bis Ende 2018 eine Neuregelung schaffen, in die als drittes Geschlecht etwa "inter", "divers" oder eine andere "positive Bezeichnung des Geschlechts" aufgenommen wird. Zur Begründung verwies das Gericht auf das im Grundgesetz geschützte Persönlichkeitsrecht.

Intersexuellen-Verbände fordern nun, dass die Gesellschaft nachzieht. Dass etwa ein eigenes Personalpronomen eingeführt wird, wie in Schweden. Oder dass es bei der Angabe persönlicher Daten etwa bei Bankgeschäften nicht allein die Wahlmöglichkeiten "Mann" und "Frau" gibt. Wie wird das in anderen Ländern geregelt? Wie steht es anderswo um die Geschlechterdebatte? SZ-Korrespondenten berichten:

Schweden: "Scheiß aufs Geschlecht" und das Pronomen "hen"

In Schweden kann man das Geschlecht eines Menschen an dessen Personennummer ablesen, die das Steueramt ausgibt und die man eigentlich für alles braucht, vom Arztbesuch bis zum Handyvertrag. Ist die letzte Ziffer gerade, gehört die Nummer einer Frau, ist sie ungerade, einem Mann. So sehr sich die Schweden auch bemühen, Unterschiede zwischen den Geschlechtern abzubauen, spätestens auf dem Papier bleibt die Gesellschaft zweigeteilt. Deswegen war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ein drittes Geschlecht einzuführen, auch Thema in den schwedischen Medien.

Schweden war 1972 eines der ersten Länder, das es Transsexuellen erlaubt hat, ihr eingetragenes Geschlecht zu ändern. Die Bedingung: Sie mussten sich sterilisieren lassen, diese Regel galt bis 2013. Im Frühjahr hat die Regierung beschlossen, Betroffene für diesen Eingriff zu entschädigen. Sie plant eine weitere Gesetzesänderung: Demnach soll es Schweden bald möglich sein, ihr offizielles Geschlecht ganz unabhängig von medizinischen Eingriffen zu ändern. Eine Reform, die Experten begrüßen, die aber auf die Situation intersexueller Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, kaum eingeht.

Auch über ein geschlechtsneutrales Pronomen ist in Schweden lange gestritten worden. Seit 2015 steht "hen" im Wörterbuch, gebraucht wird es schon viel länger - etwa für Personen, deren Geschlecht man nicht kennt, oder in Situationen, in denen es einfach egal ist. In vielen schwedischen Kindergärten und Schulen vermeidet man ohnehin Normen, die vorgeben, was typisch männlich und typisch weiblich ist. Im geschlechtsneutralen Egalia-Kindergarten in Stockholm etwa sind "er" und "sie" unerwünscht.

Als das neue Pronomen offiziell wurde, bekam auch die Diskussion um geschlechtsneutrale Toiletten in Schweden neuen Schwung. Das Sigtuna-Museum bei Stockholm machte Schlagzeilen, als es ein neues Toiletten-Schild aufhängte: Es zeigte nicht nur die normalen Zeichen für Frau und Mann, eine Figur mit und eine ohne Kleid, sondern eine dritte Figur mit halbem Kleid. Die Kampagne "Skit i kön" ("Scheiß aufs Geschlecht") wirbt dafür, solche Zeichen ganz abzuschaffen und auf die Toilettentüren nur zu schreiben, ob man sich hier setzen muss oder stehen darf.

Silke Bigalke

Kenia: Intersexuelle Babys - früher ein Fluch, heute akzeptiert

In Kenia wurde es lange als Fluch gesehen, ein Baby mit intersexuellem Geschlecht zu bekommen. Viele Neugeborene wurden einfach getötet. In der Sprache der Luo, eine der größten Volksgruppen, nannte man das dann "gebrochen von der Süßkartoffel".

Seline Okiki ist Vorsitzende der Zehn Lieben Schwestern, einer Gruppe von traditionellen Geburtshelferinnen im Westen Kenias. Sie sagte jüngst der BBC, die Situation habe sich mittlerweile etwas verbessert. Viele Intersex-Babys würden heute von ihren leiblichen Müttern akzeptiert oder von Pflegefamilien aufgezogen.

Lange war die prekäre Lage intersexueller Menschen in Kenia ein Tabuthema. Insofern war schon viel erreicht, als im vergangenen Jahr der Parlamentsabgeordnete Isaac Mwaura öffentlich ein Gesetz forderte, das die Rechte von Intersexuellen stärken, ihnen ein eigenes Geschlecht in Pass und Geburtsurkunde geben soll. Viel passiert ist seitdem jedoch noch nicht.

Bernd Dörries

USA: "Hermaphroditen" und Streit um Toiletten-Gesetze

Wenn es um die Normalisierung der Intersexualität geht, gehen in den USA wie so oft die Staaten der Westküste voran: Im Juli erlaubte Oregon als erster Bundesstaat seinen Bürgern, in Ausweis und Führerschein die Geschlechter-Identität mit "nicht festgelegt" anzugeben. Ab 2019 wird Kalifornien neben männlich und weiblich dort auch die Eintragung "non-binary" (also: "nichtbinär") ermöglichen.

Während die Transgender-Debatte Teil des amerikanischen Kulturkampfes ist, überschneidet sie sich in einigen Punkten mit Intersex-Fragen: Zum Beispiel wenn es um die "Toiletten-Gesetze" geht, nach denen Bürger öffentliche Toiletten nach ihrem auf der Geburtsurkunde festgelegten Geschlecht zu benutzen haben.

Dass es in der Geburtsurkunde mehr als nur zwei Geschlechter zur Auswahl geben sollte, gehört wiederum zu Kernforderungen von Intersex-Interessensgruppen. Ohio bietet seit 2012 die Option "Hermaphrodit" an, in New York ließ Ende vergangenen Jahres eine 55-Jährige ihre Geburtsurkunde nachträglich auf "non-binary" ändern, dies ist künftig auch in Kalifornien möglich.

Aktivisten wollen zudem die Abschaffung von Geschlechtsoperationen an Intersex-Kindern erreichen, wie sie in der Regel im Säuglingsalter vorgenommen werden. Statistiken zufolge ist einer von 2000 Säuglingen betroffen. Unterstützung erhalten sie dabei von Human Rights Watch, das im Sommer einen Bericht veröffentlichte, der die physischen Probleme und die Traumata betroffener US-Amerikaner beschreibt. Eine Schadenersatzklage gegen ein Krankenhaus wurde in diesem Zusammenhang außergerichtlich beigelegt.

Johannes Kuhn

Österreich: Softwareprobleme und die Gleichstellung von Mann und Frau

Auch Österreich blickt nach Karlsruhe. Denn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Eintrag des dritten Geschlechts ins Geburtenregister lenkt die Aufmerksamkeit auf vergleichbare Verfahren, die im deutschen Nachbarland anhängig sind. Geklagt hat hier Alex J. aus Oberösterreich. J. kam 1976 zur Welt und wurde im Geburtenregister als männlich eingetragen, aber auf ärztliches Anraten als Mädchen erzogen. Es wurden Operationen vorgenommen und mit Hormonen weibliche Brüste aufgebaut. Die ließ sich Alex J. später wieder entfernen.

J. fühlt sich den Berichten zufolge weder als Mann noch als Frau - und wollte deshalb das Geschlecht beim Standesamt korrigieren lassen. Dort hieß es, für die Eintragung eines dritten Geschlechts fehle die geeignete Software. Beim Landesverwaltungsgericht Oberösterreich verwies man auf Artikel 7 der Bundesverfassung, in dem nur von einer Gleichstellung von Mann und Frau die Rede sei.

Alex J. rief daraufhin gleich zwei Höchstgerichte an, den Verwaltungs- und den Verfassungsgerichtshof. Dort will J. sich auf das Datenschutzgesetz berufen, das ein Recht auf Richtigstellung unrichtiger Daten erlaubt. Auf die Frage nach der richtigen Anrede schlägt J. statt Herr oder Frau "Herm Alex" vor, abgeleitet von Hermaphrodit.

Peter Münch

Russland: Intersexuelle gelten als "Invaliden"

In Russland gelten Intersex-Menschen nicht als Menschen mit einer bestimmten Geschlechtsidentität, sondern als Invaliden. Dadurch haben sie einerseits Anspruch auf eine niedrige Invalidenrente und sind vom Wehrdienst befreit, andererseits entstehen für sie enorme Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Wird die Intersexualität eines Kindes gleich nach der Geburt erkannt, passen die meisten Ärzte die Geschlechtsorgane operativ an das männliche oder weibliche Geschlecht an.

In den meisten Fällen kommt der Befund aber erst in der Pubertät: Bei einem Arztbesuch mit 16 Jahren habe ihn die Ärztin aus dem Behandlungszimmer geschickt und seiner Mutter in verschämtem Ton gesagt: "Bei ihrem Sohn entwickelt sich da etwas nicht richtig", erinnert sich der russische Intersex-Aktivist Alexander Bereskin. Ihm selbst habe die Ärztin gesagt, er müsse sich zwar nicht schämen, aber lieber niemandem etwas davon erzählen, dass er das Klinefelter-Syndrom - also das chromosomale Geschlecht XXY - habe. Andere Ärzte hätten ihn nach seinem Sexualleben befragt und ihm ungefragt mit auf den Weg gegeben, wie man sich als "richtiger Mann" zu verhalten habe.

Eva Steinlein

Ukraine: Das System aus Mann und Frau wird nicht hinterfragt

In der Ukraine sind Intersex-Menschen unbekannt. Das Gesetz sieht nur zwei Geschlechter vor, die meisten Menschen wissen mit dem Begriff nichts anzufangen. Wird in Talkshows das Thema Intersexualität besprochen, wird der Eindruck erweckt, die Betroffenen seien eine Art Ungeheuer.

Einige wenige Aktivisten arbeiten daran, Informationsmaterial über Intersexualität auf Ukrainisch und Russisch zusammenzustellen und zu verbreiten. Denn die meisten Ärzte sind mit Intersexuellen vollkommen überfordert: "Ich konnte fast keine medizinische Hilfe bekommen, jedenfalls keine, die nicht Zähne, Hände oder Beine betrifft", umschreibt es die Aktivistin Julia Pustowit. Die Mehrheit der Ärzte habe es nicht interessiert, wie man ihr helfen könne, sondern warum sie so aussehe, wie sie aussehe.

Auch in der LGBT-Community, die in der Ukraine noch stark stigmatisiert und marginalisiert lebt, finden Intersexuelle meist keine Hilfe, weil viele dort das binäre System aus Mann und Frau nicht hinterfragen, sagt Pustowit: "Bis jetzt haben noch nicht alle begriffen, was der Unterschied zwischen Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung ist. Wenn man da noch die chromosomalen Varianten des Menschen hinzufügt, dann platzt der Gesellschaft der Kopf."

Eva Steinlein

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