Süddeutsche Zeitung

Historie:"Wir wollten frei sein"

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Warschau, vor 75 Jahren: Die Polen erheben sich gegen die Be­satzer. Das Museum des Auf­stands gleicht einer nationalen Weihestätte.

Von Joachim Käppner und Christian Mayer

Miron Białoszewski war 22 Jahre alt und Student der Philologie - heimlich, an der Untergrund-Universität im deutsch besetzten Warschau. Fast fünf Jahre dauerte die Unterdrückung Polens nun schon an. Er wollte eine Freundin besuchen an jenem 1. August 1944, als die Hölle losbrach: "Wir reden, auf einmal Schüsse. Dann irgendwie schwerere Waffen. Geschütze waren zu hören. Und überhaupt alles Mögliche. Und dann ein Schrei: 'Hurraaa!' 'Der Aufstand!', sagten wir uns sogleich, wie alle in Warschau. Seltsam. Denn dieses Wort hatte man vorher noch nie im Leben gebraucht. Nur in Geschichte, es kam in Büchern vor. Bis zum Überdruss. Und hier, schlagartig, ist es da."

1. August 1944. Noch herrschte Hitlerdeutschland über große Teile Europas; noch war die Nazityrannei nicht gefallen, aber sie wankte. Im Westen stießen Briten und Amerikaner ins Innere Frankreichs vor, bei Falaise würden sie bald der Wehrmacht eine vernichtende Niederlage bereiten. Eine noch größere hatte sie durch das Unternehmen Bagration an der Ostfront erlitten, die bis dahin größte Offensive der Roten Armee zertrümmerte die Heeresgruppe Mitte und trieb die Deutschen weit auf polnisches Gebiet zurück. Am ersten Augusttag 1944 hörte Białoszewski in Warschau bereits russische Geschütze.

Nun sah die Armia Krajowa (AK), die polnische Heimatarmee, ihre Stunde gekommen. 1939 hatten das Deutsche Reich und die Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt Polen einfach aufgeteilt. Im Osten ermordete Stalins Geheimpolizei Tausende polnische Offiziere und errichtete ein Schreckensregime: Heute kann man in der nun ukrainischen Stadt Lemberg (Lwiw) die Folterkeller des NKWD besichtigen, welche die Gestapo nach dem deutschen Angriff auf Stalins Reich 1941 gern übernahm. Der deutsche Terror unter dem Generalgouverneur Hans Frank im Westen Polens war noch entsetzlicher, die Blaupause für den Vernichtungskrieg. Ein Großteil der polnischen Führungsschichten wurde ermordet, das Volk sollte der Herrenrasse als Heloten dienen; der Holocaust vernichtete fast die gesamte jüdische Bevölkerung von Polen. 1943 setzte der Aufstand im Warschauer Ghetto ein Fanal für den Mut der Verzweiflung. Die Armia Krajowa war den jüdischen Kämpfern im brennenden Ghetto nur unwillig, teils gar nicht zu Hilfe gekommen.

"Wir wollten frei sein und diese Freiheit uns allein verdanken", steht am Eingang des Museums

Jetzt wagte sie selbst den Aufstand. Die AK verstand sich als bewaffnete Macht der polnischen Exilregierung in London. Sie vereinte, auch wenn die Nationalisten dominierten, fast alle politischen Kräfte ihres Landes bis auf die Ultrarechte und die Kommunisten. Die Heimatarmee hatte die deutsche Besatzungsherrschaft nicht ernstlich gefährdet, ihr aber schmerzliche Stiche versetzt. Anfang 1944 tötete ein Kommando sogar den SS-Führer von Warschau, den Kriegsverbrecher Franz Kutschera.

Die von ihren Generälen Tadeusz Bór-Komorowski und Antoni Chruściel geschickt geführte Untergrundarmee entriss der Wehrmacht weite Teile Warschaus, vor allem die historische Altstadt. Heckenschützen erschwerten den Deutschen den Gegenangriff. Im Labyrinth der Keller und Kanäle hielten die Kämpfer Verbindung und verbargen sich vor den Attacken der Sturzkampfbomber.

Zu denen, die kämpften, gehörte nun auch Miron Białoszewski. Er schilderte, wie deutsche Tiger-Panzer, "groß wie Häuser", Löcher in die alten Prachtbauten schossen; "die ersten Barrikaden, die provisorischen aus Holz, taugten nichts, die Panzer rollten einfach über sie weg." Es war ein ungleicher Kampf, doch Wehrmacht und SS mussten Haus für Haus einnehmen. Ihre Verluste waren hoch. Auch die Polen zahlten einen hohen Preis, wie Białoszewski erleben musste: "Denjenigen, die mit Hartnäckigkeit (und was für einer - bewundernswert) die Frontlinie verteidigten, fanden sich immer wieder abgeschnitten von Treppen und unterirdischen Gängen, sie lagen auf den Dächern, auf diesen vierten, fünften Stockwerken, die Dächer fingen Feuer, brannten, und mit den Dächern stürzten sie in die Tiefe. Ein Glutofen, wie Ostern '43 im Ghetto."

In seinem Buch "Feuersturm" schreibt der britische Historiker Andrew Roberts über die Strategie der Aufständischen: "Die Polen wollten der deutschen Besatzungsmacht verständlicherweise die Kontrolle über ihre Hauptstadt entreißen und damit zugleich, wie sie hofften, die Souveränität ihres Landes wiedererlangen, bevor die sowjetischen Truppen die Stadt einnahmen." Sie wollten ihr Land zurück.

Für viele Polen prägt der Aufstand bis heute das Geschichtsbild, nicht nur, wenn ein großer Jahrestag ansteht wie diesmal der 75. Zur Gedenkveranstaltung kam Mitte der Woche auch der deutsche Außenminister Heiko Maas. Es war eine heikle Mission in Sachen Vergangenheit, denn die Bundesrepublik und Polens nationalistische Regierung trennt in der Gegenwart vieles.

Viele Jugendliche beteiligten sich am Aufstand, Jungen wie Mädchen

An den Heldenmut der Armia Krajowa erinnern zahlreiche Gedenkstätten und natürlich der geglückte spätere Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Altstadt, der international Maßstäbe gesetzt hat. Fast jede Besuchergruppe wird an das Denkmal des "Kleinen Aufständischen" an der historischen Stadtmauer geführt, eine etwa 150 Zentimeter hohe Skulptur des Bildhauers Jerzy Jarnuszkiewicz. Das 1983 errichtete Mahnmal zeigt ein Kind mit Stahlhelm und Gewehr. Als Betrachter ist man hin- und hergerissen: Wenn selbst Kinder bereit sind, für ihr Land in den Tod zu gehen, wie es das Kunstwerk anschaulich darlegt, dann hat dies etwas Bewegendes, aber auch zutiefst Erschreckendes. Und für Besucher aus Deutschland auch Beschämendes. In hervorragendem Deutsch erzählen die Stadtführer gerade an diesem Ort von den dramatischen Ereignissen 1944.

Viele Jugendliche, manche noch keine 15 Jahre alt, beteiligten sich an dem Aufstand, Jungen wie Mädchen waren nicht nur bei der Nachschubversorgung und Essensausgabe dabei, sie erledigten auch lebensgefährliche Jobs, etwa als Meldegänger. Sie verschanzten sich mit Gewehren und Granaten hinter Barrikaden oder in Häusern. Der "Kleine Aufständische" zählt zu den meistfotografierten Motiven Warschaus.

Der zentrale Erinnerungsort ist aber das Museum des Warschauer Aufstands, das 2004 auf dem Gelände eines alten Elektrizitätswerks eröffnet wurde. Das vom damaligen Oberbürgermeister und späteren Präsidenten Lech Kaczyński vollendete Projekt setzt ganz auf Überwältigung und Pathos. Es geht an diesem Ort um ein nationales Trauma, das aus Sicht der Museumsmacher mit einem moralischen Sieg endete: Zwar scheiterte der Aufstand mit einer bitteren Niederlage, und auch später unter den Kommunisten gab es, wie zu erwarten, keine angemessene Würdigung der Heimatarmee, wie man in der Dauerausstellung erfährt. Dafür gibt es nun einen patriotischen Tempel, der wohl wenige Besucher kalt lässt.

"Wir wollten frei sein und diese Freiheit uns allein verdanken", steht an der Eingangstür. Es ist das Leitmotiv des Widerstands und nur zu verstehen, wenn man die Geschichte des Staates kennt, der zwei Mal zum Spielball von Aggressoren wurde und von der Landkarte verschwand: Einmal nach den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich Russland, Preußen und Österreich das Land einverleibten. Und ein zweites Mal 1939, als Hitler und Stalin den erst 1918 neugegründeten polnischen Staat überfielen und zerlegten.

Als Besucher kann man zum Telefonhörer greifen und die Stimmen von Zeitzeugen hören. Man begegnet den Männern, Frauen und Kindern des Widerstands, die mit Fotos, Briefen, Grabsteinen, Kreuzen und persönlichen Erinnerungsstücken als Märtyrer inszeniert sind. Das Museum soll die 63 Tage des Aufstands durch eigenes Nachempfinden erfahrbar machen. Und so bewegt man sich in der Kulisse der von Einschusslöchern durchsiebten Häuser und kriecht in den originalgetreuen Tunnel der Warschauer Kanalisation, wo sich damals nur die Untergrundkämpfer auskannten. Man hört das Heulen von Sirenen, die patriotischen Lieder, die Stiefelschritte von Soldaten und deutsche Marschmusik in jenem Teil des Museums, in dem auch die deutschen Befehlshaber wie der SS-Kommandeur Oskar Dirlewanger, die den Tod Zehntausender Zivilisten zu verantworten hatten, porträtiert werden.

Das Museum ist eine Weihestätte für die Heimatarmee, eine Inszenierung, in der die Russen eine unrühmliche Rolle spielen: Dass Stalin nicht eingriff, um den Aufstand zu unterstützen, haben viele Polen bis heute nicht vergessen. Neun Wochen lang, eine Ewigkeit, kämpfte die Heimatarmee gegen die vorrückenden Deutschen, allein. Die Rote Armee kam nicht zu Hilfe. Stalin verweigerte den Langstreckenflugzeugen der Westalliierten sogar die Landeerlaubnis auf sowjetischer Seite.

Die Zurückhaltung der Roten Armee hatte anfangs indessen ihre Gründe. Kurz vor Warschau fingen vier eilig aufgestellte deutsche Panzerdivisionen die weit vorgerückten Tanks der Sowjets ab, genau an jenem 1. August, als der Aufstand losbrach. Noch war die deutsche Kriegsmaschinerie zu Gegenschlägen fähig; vor den Toren Warschaus verebbte die Bagration-Offensive, das ahnten die Kämpfer der AK nicht. Erst während der nächsten Wochen erkannte Stalin: Er konnte nun zusehen, wie die Nazis den Job erledigten, ihm die polnischen Antikommunisten vom Hals zu schaffen. In "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" schreibt der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser: "Anfangs wollten die Sowjets Warschau erobern, konnten aber nicht; später hätten sie Warschau erobern können, wollten aber nicht mehr."

In England, wo die verzweifelte Exilregierung Polens nichts an der Tragödie ändern konnte, sah der große Kritiker der totalitären Ideologien, George Orwell, voraus: "Es ist die Herabsetzung Polens zu einem Vasallenstaat." Zwar versicherte der Kriegspremier Winston Churchill den Exilpolen: "Wir werden Sie nicht im Stich lassen." Aber die westlichen Alliierten hatten 1939 Polen nicht retten können, sie konnten es auch nun nicht.

Erst recht haben die Polen die unfassbare Brutalität nicht vergessen, mit der die Deutschen im Sommer 1944 den Aufstand erstickten. In den Trümmern seiner Stadt hat Białoszewski auch das miterlebt: "Ein paar, die nur angeschossen waren, haben sie zusammen mit den Toten verbrannt. Sie wurden alle ins Feuer geworfen. Im Spital des heiligen Stanislaus schossen sie aufs Geratewohl herum und warfen die Kranken lebendig aus den Fenstern auf den Hof. Dort verbrannten sie sie, wie es gerade kam. Ob sie lebendig waren oder tot."

Anfang Oktober 1944 kapitulierte die Heimatarmee. Erst im Januar 1945 besetzte die Rote Armee das Trümmerfeld, das einmal eine blühende Großstadt gewesen war - die Deutschen hatten das kulturelle Erbe Warschaus dem Erdboden gleichgemacht. Umso erstaunlicher, wie freundlich die Warschauer heute, 75 Jahre danach, deutschen Besuchern begegnen.

Die Zitate von Miron Białoszewski stammen aus seinem Buch: "Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand" (Bibliothek Suhrkamp). Er überlebte den Krieg und wurde zu einem der bekanntesten Dichter Polens.

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SZ vom 03.08.2019
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