Süddeutsche Zeitung

Getrennte Familien an der US-Grenze:Versagen ohne Ende

Lesezeit: 4 Min.

Von Johannes Kuhn, Austin

José Xavier Orochena hat ein Wort, um die Situation zu beschreiben: brutal. "Die Kinder können sich nicht wehren und die Mütter haben keine Ahnung, was ihre Söhne und Töchter essen. Oder wie es ihnen geht, wo sie schlafen. All die Sachen, die du als Elternteil doch wissen möchtest. Wenn ich mit ihnen spreche, beginnen sie sofort zu weinen." Nach etwas Nachdenken ergänzt er: "Das ist die schwierigste Sache, mit der ich bislang zu tun hatte."

Orochena ist Anwalt in New York und vertritt inzwischen 19 Eltern aus Zentralamerika, die in den vergangenen Monaten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze von ihren Kindern getrennt wurden. Seitdem US-Präsident Donald Trump am 20. Juni per Präsidialerlass einen symbolischen Schlussstrich unter die von seiner Regierung ausgelöste Grenzkrise zog, nimmt die öffentliche Aufmerksamkeit langsam und stetig ab. Doch die Krise ist noch lange nicht zu Ende.

Am heutigen Dienstag wird sich dies erneut zeigen: Das ist der Stichtag, den ein Richter der US-Regierung gesetzt hat, um alle getrennten Kinder unter fünf Jahren wieder zu ihren Eltern zu bringen. Erst am Montag veröffentlichte das Justizministerium, um wie viele es sich überhaupt handelt: 96 Babys und Kleinkinder. Zugleich räumte die Regierung ein, die Forderung nicht erfüllen zu können. Mehr als 40 Betroffene sollen vorerst weiter in den Auffanglagern für Jugendliche bleiben.

In einigen Fällen steht die Hintergrundüberprüfung der Eltern noch aus, in anderen der Prozess wegen illegaler Grenzübertretung, der in der Regel mit einer 30-tägigen Gefängnisstrafe im Abschiebelager endet. Ein einziges Kind konnte bislang niemandem zugeordnet werden, und, menschenrechtlich besonders brisant: In neun Fällen haben die USA die Eltern bereits abgeschoben, die Kleinkinder blieben allein im fremden Land zurück.

Ein Einjähriger muss vor Gericht erscheinen

Der einjährige Johan aus Honduras wurde am Freitag vor ein Einwanderungsgericht in Phoenix gebracht. Während der Junge aus seiner Milchflasche trank, entschied ein Richter auf Antrag des Baby-Anwalts auf "freiwillige Ausreise": Der Einjährige wird nun nach Honduras geflogen, wohin sein Vater bereits vor Kurzem abgeschoben worden war.

An solch kafkaesken Momenten mangelt es in der "Null-Toleranz"-Grenzpolitik nicht. Die Houstoner Anwältin Ruby Powers, die betroffene Eltern vertritt, beschreibt die vergangenen Wochen so: "Wir haben schnell gemerkt, dass die Regierung einen Plan für die Trennung hatte - aber dass sie auch einen Plan brauchen, um die Familien wieder zusammenzubringen, scheint ihnen nicht in den Sinn gekommen zu sein."

So können Hilfsorganisationen und Anwälte aus Datenschutzgründen nicht über die Registrierungsnummer nach dem Verbleib der Kinder suchen. Weil es an Schlafplätzen mangelt, wurden manche Kinder Tausende Kilometer durchs Land nach Florida und New York geflogen. Teilweise sind vier Behörden gleichzeitig an dem Prozedere beteiligt. Auch wenn die zuständigen Stellen Berichte über schlechte Kommunikation, Aktenvernichtung und Chaos von sich weisen, ist die Unsicherheit bei den Betroffenen groß.

Wie gut die US-Regierung die Rückabwicklung ihrer Politik organisieren kann, wird sich am 27. Juli zeigen. An diesem Tag muss sie laut Richterspruch auch die mehr als 2000 Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern zusammenbringen, die älter als fünf Jahre sind. "Das wird nicht hinhauen", prophezeit Anwalt Orochena. "Das ganze System ist überhaupt nicht darauf ausgelegt, Familien wieder zusammenzubringen oder sich um sie zu kümmern."

Das zeigt sich daran, dass Eltern erst überprüft werden, bevor sie ihre Kinder wieder in Empfang nehmen können. Dieser Prozess galt bislang laut Orochena nur für Pflegeeltern oder Verwandte, die solche Jugendliche aufnehmen wollten, die ohne Begleitung von Erwachsenen an der Grenze auftauchten. Weil die US-Regierung aber die Kinder ihren Eltern weggenommen hat, gelten die nun als unbegleitet - und fallen unter das entsprechende Gesetz, das Überprüfungen künftiger Betreuer vorschreibt.

Dazu gehört nicht nur der Abgleich der elterlichen Fingerabdrücke mit der Kriminaldatenbank, sondern eigentlich auch der Nachweis einer Wohnung und eines Jobs. "Das kann doch kein Asylsuchender sofort vorzeigen", sagt Anwalt Orochena. Er fordert - wie auch Bürgerrechtsorganisationen - eine Abkürzung der Eltern-Checks, zumal dieser mehr als zwei Monate dauern kann.

Bislang gab es an der Grenze auch keine Familienunterkünfte mit einer Kapazität von mehreren Tausend Plätzen. Wer mit einem Kind kam und Asyl suchte, musste nach 20 Tagen auf freien Fuß kommen und durfte in den USA auf sein Verfahren warten. Das US-Justizministerium wertete dies als Schlupfloch, um sich in den Untergrund abzusetzen. Um ein abschreckendes Exempel zu statuieren, begann es mit der Trennung der Familien.

Die Rücknahme der Trennungspolitik bedeutet allerdings nicht, dass man sich künftig an die bisherigen 20 Tage Höchstaufenthalt in Haft zu halten gedenkt. Trump hat die US-Armee bereits angewiesen, Zeltstädte und Lager auf ihren Militärbasen zu errichten, die bis zu 32 000 Menschen unterbringen können. Das mittelfristige Ziel dürfte es sein, alle Asylsuchenden in Grenznähe zu internieren und immer weniger Fluchtgründe anzuerkennen. Bereits seit einigen Wochen gelten häusliche Gewalt und Flucht vor kriminellen Banden nicht mehr als Aufnahmegrund.

Dubiose Formulare

Unklar ist, wie weit die Trump-Regierung mit dieser Politik kommen wird: Am Montag lehnte ein Gericht den Antrag ab, Jugendliche künftig langfristig einsperren zu können. Die Frage dürfte sein, wie viele andere Aspekte der Familienkrise durch die Instanzen wandern, bevor sie endgültig entschieden wird.

Unterdessen versuchen die Behörden offenbar, den Druck zu erhöhen: Anwälte und Augenzeugen berichten davon, dass Beamte in den Auffanglagern Formulare verteilen, in denen Eltern ihren Antrag auf Asyl zurückziehen und sich zur Ausreise verpflichten. Im Gegenzug wird ihnen in Aussicht gestellt, ihre Kinder zurückzuerhalten.

"Viele Eltern, mit denen ich spreche, sind traumatisiert. Völlig geschockt", erzählt Anwältin Powers. "Oft haben sie daheim mit der Polizei schlechte Erfahrungen gemacht und trauen auch den Uniformierten in den Lagern nicht." Derzeit haben sie dazu auch keinen Anlass.

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