Süddeutsche Zeitung

Geschmackssache: Saisongemüse:Der Event-Kürbis

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Eine Flut von Suppen in Restaurants, Zier-Exemplare im Blumenladen und eine Meisterschaft im Weitwurf: Jedes Jahr im Oktober avanciert der Kürbis zum Lifestyle-Objekt.

Marten Rolff

Der Schriftsteller Max Goldt hat dem Kürbis einmal das "Aroma einer ungelüfteten Umkleidekabine" zugeschrieben. Das war einerseits vielleicht ein wenig leichtfertig, weil es der kulinarischen Vielseitigkeit dieser Beerenfrucht (!) dann doch nicht ganz gerecht wird. Andererseits bekommt man seit Jahren mit jedem Oktober mehr Lust, Goldt als weltwichtigsten Kürbisexperten zu rühmen; und sei es nur, um all denen etwas entgegenzusetzen, die Halloween inzwischen als weltwichtigstes Fest und den Kürbis als größte geschmackliche Offenbarung seit Entdeckung der Kakaobohne feiern.

Was die wachsende Zahl der Eventobst-Adepten angeht, so würde man ja noch Milde walten lassen: Das orange Inferno in den Schaufenstern werden wir auch in diesem Jahr wieder so großzügig ignorieren wie die Zierkürbisflut im Blumenladen oder die Meisterschaft im Kürbisweitwurf ; und als in den Medien vor einigen Tagen aufgeregt die Bilder des 661,5-Kilo-Exemplars gezeigt wurden, mit dem das Team "Heavy East" aus Görlitz den internationalen Wettkampf im Kürbiswiegen gewonnen hatte, da freute man sich sogar ein wenig über den schönen Wachstumserfolg für Ostsachsen.

Ärgerlicher ist dagegen der berechtigte Verdacht, dass 661,5 Kilo in etwa die Menge ist, die ein durchschnittliches deutsches Lokal im Oktober 2010 für seine Kürbisgerichte verkocht. Dass ein Restaurant heute nur das Ingwer-Muskatkürbis-Süppchen mit dem stets etwas zu üppig verwendeten steirischen Kernöl von der Karte nehmen muss, um sich vom Mainstream abzusetzen, ist bekannt. Nun aber hat die einstige Einlegefrucht auch als Eis oder Smoothie Karriere gemacht. Und spätestens seit selbsternannte Gourmets empfehlen, Kürbis-Mus auf einen Boden aus zerbröselten Mandelkeksen zu klatschen und mit Parmesan zu überbacken, ist Max Goldt und sein Bonmot von der Umkleidekabine rehabilitiert: Nach einem ähnlich perfekten süßlich-herben Fäulnisgeschmack muss man jedenfalls lange in den Kochbüchern suchen.

Die amerikanischen Ureinwohner, von denen Christoph Kolumbus den Kürbis mit nach Europa gebracht hat, haben sein Fleisch übrigens in Streifen geschnitten und in der Sonne getrocknet. Unsere Oma hat ihn später mit Essig, Wein, Zitrone, Zucker, Zimt, Ingwer und Nelken eingekocht. Es wäre höchste Zeit, das mal wieder auf die Karte zu setzen.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2010
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