Süddeutsche Zeitung

Familientrio:Wie wünsche ich Todkranken ein "Gutes neues Jahr"?

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Darf man jemanden, der nicht mehr sehr lange zu leben hat, überhaupt noch Glückwünsche schicken? Oder klingt das zynisch? Drei Experten wissen Rat.

Leserin Juliane P. aus Ulm fragt:

Bei meiner Nichte (22) wurde vor Weihnachten ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert. Ihre Lebenserwartung schwankt zwischen sechs Monaten und wenigen Jahren. Wir, ihre Familie, sind völlig überfordert. Ihr ein "Gutes neues Jahr" zu wünschen, klingt doch zynisch. Ich weiß gar nicht, was ich beim nächsten Treffen oder Telefonat sagen soll. Was raten Sie?

Experten antworten:

Kirsten Boie: Wünschen Sie ihr unbedingt ein besseres neues Jahr!

Ihre Nichte selbst ist ganz sicher noch sehr viel überforderter als die Familie. Und das Allerschlimmste für die Betroffenen in so einer Situation ist immer, wenn sich Freunde, Bekannte und Verwandte zurückziehen aus Scheu, etwas falsch zu machen. Was könnten Sie denn wohl so Schlimmes, Falsches sagen, wenn Sie doch ganz offensichtlich nicht gedankenlos, sondern sehr sensibel mit der Situation umgehen? Natürlich können Sie Ihrer Nichte ein gutes neues Jahr wünschen, noch lieber vielleicht ein besseres - haargenau das wünscht sich Ihre Nichte doch auch! Selbst wenn das inzwischen etwas anderes bedeutet als beim letzten Jahreswechsel. Schreiben oder sagen Sie ihr, dass Sie ihr alles Gute wünschen, und dass das bedeuten soll: genau das, was Ihre Nichte sich selbst wünscht. Ein sehr schwer erkrankter Freund von mir bekam vor zwei Jahren von Freunden eine Neujahrskarte mit dem Aufdruck: "Ein gutes neues Jahr!" Das Wort "gutes" war allerdings durchgestrichen, und er hat Tränen gelacht. Machen Sie es anders, halten Sie den Kontakt zu Ihrer Nichte und lassen Sie sich dabei an jedem Punkt von ihren Reaktionen leiten. Aber wünschen Sie ihr unbedingt ein gutes, ein besseres neues Jahr!

In einer Situation wie dieser ist es noch viel wichtiger, Ihrer Nichte ein glückliches neues Jahr zu wünschen - wenn gleich auch in einer leicht veränderten Version. Schreiben Sie ihr doch: "Ich kann mir gut vorstellen, dass du sehr traurig bist über deinen Gesundheitszustand. Aber ich wünsche dir wirklich von Herzen, dass du dein Leben genießen kannst, solange es nur geht. Bitte lass mich wissen, wenn ich irgendetwas für dich tun kann."

Niemand, der nicht in einer ähnlichen Situation ist, kann sich vorstellen, was Ihre Nichte gerade wohl durchmacht. Ihr Problem ist ein existenzielles, es kreist um die Frage, wie lange sie noch zu leben hat. In dieser Situation ist gefühlt jede Postkarte eine potenzielle Gefahr: Mal angenommen, sie bekommt von Ihnen eine Karte mit dem Motiv einer im Atlantik untergehenden Sonne - wäre das nicht pietätlos, weil es sie an das nahende Ende ihrer Tage erinnern könnte? Oder Sie schicken ihr ein Kuscheltier in Form eines Elefantenbabys: Wäre das nicht verletzend, weil ein Elefant sehr alt wird, und erst recht ein Baby, weil dieses Elefantenbaby so viel mehr Lebenszeit vor sich hat als Ihre Nichte? Sie werden nicht die perfekte Karte, das perfekte Geschenk und auch nicht die perfekte Formulierung finden, die Ihrer Nichte das Herz so erleichtert, dass sie ihre schlimme Situation vergessen kann. Sie verhandelt in ihrem Kopf gerade Dinge in einer anderen Größenordnung. Es ist also letztendlich völlig egal, was Sie sagen. Die Hauptsache ist doch, dass Sie ihr zeigen: Ich bin für dich da.

Haben Sie auch eine Frage? Schreiben Sie eine E-Mail an: familientrio@sueddeutsche.de.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2016
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