Süddeutsche Zeitung

Deutscher in Polynesien vermisst:Albtrauminsel Nuku Hiva

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Schon im Jahr 1842 schwärmte Schriftsteller Herman Melville von der Südseeinsel Nuku Hiva - die Bewohner beschrieb er als tätowierte Kannibalen. Nun wird ein deutscher Weltumsegler vermisst und eine Feuerstelle mit menschlichen Überresten legt einen schrecklichen Verdacht nahe.

Titus Arnu

Nuku Hiva muss exakt so aussehen, wie sich Menschen aus westlichen Ländern den Garten Eden vorstellen. Als der Schriftsteller Herman Melville im Jahr 1842 die Südsee-Insel betrat, fühlte er sich, als habe er "einen Blick in den Paradiesgarten" geworfen. In seinem Roman "Taipi" schwärmt Melville von der Natur, er beschreibt "grasbewachsene Klippen, die mehrere hundert Fuß hoch sind und über die sich zahllose kleine Wasserfälle ergießen". Die Hauptfigur der Geschichte, ein desertierter amerikanischer Seemann, flüchtet nach vier Monaten von der Insel - aus Angst vor Kannibalen. Der New Yorker Verlag Harper & Brothers lehnte Melvilles Manuskript ab, weil "die Erzählung zu phantastisch erschien, um glaubwürdig zu sein".

Was zwei deutschen Weltumseglern nun auf Nuku Hiva widerfahren sein soll, klingt noch viel unglaublicher. Ein Paar aus Norddeutschland, das seit 2008 mit einem Segelboot auf Weltreise war, ist auf der paradiesisch anmutenden Insel offenbar Opfer eines bizarren Gewaltverbrechens geworden. Der 40 Jahre alte Mann wurde seit einer Woche vermisst, nun haben Polizisten in einem abgelegenen Tal eine Feuerstelle mit menschlichen Überresten gefunden - Knochen, Zähne mit Prothesen, Kleiderreste, Knöpfe und verschmortes Metall. Wie der Staatsanwalt des Überseegebiets Französisch-Polynesien, José Thorel, mitteilte, stammen die Überreste aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Deutschen. Gewissheit könne es frühestens kommende Woche geben, nach einer DNS-Analyse, sagte eine Sprecherin des Bundeskriminalamtes am Montag.

Trotzdem ist sich die Bild-Zeitung schon sicher, dass der verschwundene Weltenbummler von einem "Eingeborenen" aufgegessen wurde. Der mutmaßliche Kannibale wird in der Boulevardzeitung mit Foto und vollem Namen präsentiert. Für die Kannibalismus-These gibt es keinen Beweis, aber nach Angaben der polynesischen Behörden wird tatsächlich ein einheimischer Jäger gesucht, der zuletzt mit den beiden Deutschen im abgelegenen Hakaui-Tal unterwegs gewesen sein soll. Von der Tour kehrte nur die 37-jährige Frau zurück, was unterwegs genau passierte, ist unklar. Der Zeitung Dépêche de Tahiti zufolge hat der Jäger die Frau bedroht, sexuell belästigt und an einen Baum gebunden.

Nuku Hiva, auf halber Strecke zwischen Mittelamerika und Australien gelegen, gilt als Traumziel für Globetrotter wie Stefan R. und Heike D., die im April 2008 mit einem 14 Meter langen Katamaran in der Türkei aufbrachen. Mit dem Boot um die ganze Welt, das war der große Traum der beiden Norddeutschen. 2012 wollten sie ihre Reise in Neuseeland beenden. Ende September ging das Paar in der Anaho-Bucht von Nuku Hiva vor Anker, und Mitte Oktober wollten die beiden Weltenbummler die zur Gruppe der Marquesas gehörende Insel eigentlich längst verlassen haben: "Nach sechs Wochen Marquesas werden wir nun zu den Tuamotus-Atollen schippern", schrieb Stefan R. noch vor wenigen Tagen bei Facebook. Nur Stunden nach seinem letzten Eintrag im Online-Netzwerk brach er zu dem mysteriösen Jagdausflug ins Innere der Insel auf. Die Frau befindet sich weiterhin auf Nuku Hiva, BKA und Auswärtiges Amt kümmern sich um die Betreuung der Angehörigen.

Der angebliche Kannibalismus-Fall sorgt weltweit für Schlagzeilen, und die Einwohner der Südsee-Insel sehen sich alten Vorurteilen ausgesetzt. Das Mitleid mit den Opfern Stefan R. und Heike D. sei groß, dennoch fühlen sich die 2700 Inselbewohner nun zu Unrecht als Menschenfresser angegriffen: "Es war die Tat eines Einzelnen, aber die gesamte Bevölkerung der Marquesas-Inseln wird dadurch verunglimpft", sagte Bürgermeister Benoit Kautai der Zeitung Les Nouvelles de Tahiti. "Auf Tahiti zeigen sie mit dem Finger auf unsere Kinder." Die Region befürchtet wegen des Falls negative Auswirkungen auf den Tourismus.

Herman Melville beschrieb die Bewohner von Nuku Hiva nach seiner Abreise im Jahr 1842 zwar als tätowierte Kannibalen, blieb aber trotzdem bei seinem positiven Urteil: "Freundlichere und liebenswürdigere Menschen gibt es im ganzen Pazifik nicht."

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Quelle:
SZ vom 18.10.2011
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