Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Der letzte Tanaru

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Es war einmal ein Mann, der lebte ganz allein im Wald. Klingt wie der Anfang eines Märchens, ist aber wahr und hat kein glückliches Ende.

Von Christoph Gurk

Es war einmal ein Mann, der lebte ganz allein in einem Wald. Niemand weiß, wie er hieß. Man nennt ihn "den letzte Tanaru", weil so der Stamm heißt, zu dem der Mann gehört.

Der Wald, in dem der Mann wohnte, liegt im Bundesstaat Rondônia in Brasilien. Früher wuchsen dort überall Bäume, Büsche, Blumen und Schlingpflanzen. Doch dann kamen Holzfäller und Viehzüchter. Sie sägten die Urwaldriesen um, weil sie das wertvolle Holz verkaufen wollten. Was danach noch übrig war, zündeten sie an: In der Asche sollte Gras wachsen, als Futter für Rinder. Bald gab es nur noch Weiden und Felder, wo früher Wald gewesen war. Und die Menschen, die vorher dort gelebt hatten, wurden vertrieben oder getötet.

Forscher glauben, dass das auch mit dem Stamm des letzten Tanaru geschehen ist: Alle Mitglieder wurden umgebracht, nur er konnte entkommen. Von da an lebte er ganz allein im übrig gebliebenen Wald, fast 30 Jahre lang.

Auf Lichtungen hat er sich kleine Hütten gebaut, mit Ästen und großen Blättern als Dach. Aus Gräsern hat er sich Hängematten geflochten, in denen er geschlafen hat. Dort, wo der Mann lebte, ist das Wetter warm. Er brauchte keine dicke Kleidung, keine langen Hosen und keine Jacke.

Gegessen hat er, was auf kleinen Feldern neben seiner Hütte wuchs: Mais und Maniok, eine Pflanze mit einer langen Wurzel, die ein bisschen nach Kartoffel schmeckt. Im Wald gab es außerdem Bäume mit wilden Früchten und Flüsse, in denen man fischen kann. Und natürlich hat der Mann auch Tiere gejagt, um sie zu essen: Wildschweine, Gürteltiere, Kaimane, Schildkröten. Dazu hatte er Speere, Pfeil und Bogen. Er hat auch Fallen gebaut: Löcher in der Erde, bedeckt mit Blättern und Zweigen, damit Tiere sie nicht bemerken und hineinfallen.

Wenn Forscher in den Wald gegangen sind, haben sie all diese Dinge gefunden. Immer wieder haben sie in den Hütten auch Gruben entdeckt, die sicher keine Fallen waren, rechteckig und etwa hüfttief. "Indio do Buraco" wurde der Mann darum auch genannt, was auf Deutsch übersetzt so viel wie "Der Indigene mit der Grube" heißt. Haben die Löcher etwas mit den Göttern zu tun, an die der Mann vielleicht geglaubt hat?

Die Forscher hätten ihn das gerne alles selbst gefragt, aber das ging nicht. Dabei wussten Behörden und Wissenschaftler schon lange, dass ein Mann einsam im Wald wohnt. Immer wieder haben Forscher versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie haben Samen und Essen als Geschenke mitgebracht und versucht, mit dem Mann zu reden, auch in Sprachen von anderen Stämmen, die in der Nähe wohnen. Nichts hat funktioniert. Der Mann hat sich meist im Wald versteckt oder in seiner Hütte. Manchmal hat er auch mit seinem Pfeil und Bogen auf die Leute gezielt, die da zu ihm gekommen sind.

Ansonsten aber war er nicht feindselig. Einmal hat er einem Besucher etwas zugerufen, was nach "Ho" klang. Es war eine Warnung: Vorsicht, vor dir ist eine Falle mit spitzen Stöcken, an denen du dich aufspießen kannst! Wahrscheinlich wollte der Mann, nach allem, was ihm geschehen war, nichts mehr mit der Außenwelt zu tun haben. Er hatte vielleicht Angst, dass ihm etwas Ähnliches passiert wie den anderen Mitgliedern seines Stammes.

Das Leben ganz alleine war aber bestimmt nicht einfach. Der Wald, in dem der Mann lebte, ist voller Gefahren. Es gibt Raubtiere, giftige Schlangen und wütende Wildschweine. Ein Baum kann einem bei einem Sturm auf ein Bein oder sogar auf den Kopf fallen. Eine kleine Wunde kann sich schrecklich entzünden, und es gibt niemanden, der einem helfen kann, kein Krankenhaus und keinen Notarzt. Dazu war der Mann wahrscheinlich auch sehr einsam: Er hatte niemanden, mit dem er reden konnte. Niemanden, der mit ihm gelacht, gesungen, gekuschelt oder gespielt hat. Keine Umarmungen, kein Kuss, jahrzehntelang.

Trotzdem wollte der "Indio do Buraco" mit niemandem etwas zu tun haben. Irgendwann haben die Forscher und Mitarbeiter von Schutz behörden ihn dann auch in Ruhe gelassen. Sie haben dafür gesorgt, dass niemand den Wald anrührt, in dem der letzte Tanaru wohnte. Und manchmal haben sie nachgesehen, ob er noch am Leben ist.

Vor ein paar Monaten haben sie ihn dann tot in seiner Hängematte gefunden. Woran der Mann gestorben ist, weiß man noch nicht. Aber er hatte eine Art Mütze auf dem Kopf und seinen Körper auf Federn gebettet. Vielleicht hat er gewusst, dass er bald sterben wird?

Die Forscher haben den Leichnam untersucht und ihn danach in eine seiner Gruben gelegt und ihn mit Bananenblättern bedeckt. Nun ist er begraben, wo er gelebt hat - im Herzen Südamerikas. Im Moment steht es noch unter Schutz, Viehzüchter aber machen Druck: Sie wollen den Wald in Weiden für ihre Rinder verwandeln. Forscher und Naturschützer kämpfen jetzt dafür, dass es erhalten bleibt. Für die Umwelt, aber auch zu Ehren des "Indio do Buraco", dem letzten vom Stamm der Tanaru.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2022
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