Süddeutsche Zeitung

Tech-Branche will die Videokonferenz neu erfinden:Das elektrische Kissen

Lesezeit: 4 min

Das Ende der Pandemie ist noch in weiter Ferne, aber wir sind der Videokonferenzen längst müde. Woran die Tech-Branche gerade arbeitet, um trotz physischer Distanz ein Gefühl von Nähe zu erzeugen.

Von Michael Moorstedt

Im Frühjahr war die Antwort auf Corona noch einfach: Yogakurse, Hochzeiten, Vorstandssitzungen und sämtliche anderen gesellschaftlichen Vorgänge, denen der moderne Mensch so nachgeht, wurden einfach abgefilmt und im Internet übertragen. Draußen tobte das Virus, drinnen traf man sich zur Videokonferenz-Happy-Hour auf Zoom oder Microsoft Teams. Man schaltete sich zum Spieleabend via Videochat zusammen und durfte sich so auch noch kurz als Teil einer technischen Avantgarde fühlen. Das schnelle Ersatzmedium wurde zur Dauerlösung. Besser immerhin als nichts.

Nach über einem halben Jahr mit der Pandemie ist nun noch immer kein echtes Ende in Sicht, ein Lockdown verlängert sich direkt in den nächsten. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die kleinen Video-Vierecke, auf die man in die erschöpften Gesichter von Kollegen und Freunden blickt, nicht die letzte Antwort auf das Gebot der sozialen Distanz sein können. Zoom-Müdigkeit überall.

Nutzer klagen über brennende Augen und Burnout-Symptome. Ungezählt die Anekdoten, in denen entweder die Technik oder die Gesprächspartner Ausfallerscheinungen aufweisen. Kinder stürmen in die Sitzung, der Vorgesetzte scheint mal wieder keine Hose anzuhaben, ein anderer kommt zwar nicht zu spät, muss dafür aber zweimal seinen Router neu starten. Permanent sieht man einfrierende Gesichter oder hört verzerrte Stimmen.

Hohle Ratschläge

Derweil stellen sich all die gut gemeinten Ratschläge zur besseren Videokommunikation, die in den vergangenen Monaten veröffentlicht wurden, als hohl heraus. Häufiger mal aufstehen? Einen lustigen Bildschirmhintergrund auswählen? Ein Gesellschaftsspiel ausprobieren? Tatsächlich fühlen sich längst sogar private Zusammenkünfte via Videokonferenz wie Arbeit an. Keine noch so spannende Partie "Mensch ärgere dich nicht" kann das ändern. Auch die Flucht zu anderen Plattformen, die eigentlich für anderes gedacht waren, ist nur bedingt hilfreich. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf etwa nutzten zahlreiche Politiker die Videospiele "Among Us" oder "Animal Crossing", um mit den Wählern in Kontakt zu bleiben. Rührend. Mehr Nähe entsteht auch dadurch nicht.

Bliebe die Frage, ob wir es gerade mit einer ähnlichen Situation zu tun haben, wie kurz nach der Erfindung des Films? Damals wurde zu Beginn auch nur die alte Realität mithilfe der neuen Technologie nachgestellt - ein Zug, der in den Bahnhof einfährt, ein Mann auf dem Fahrrad. Es verging einige Zeit, bis Schnitttechniken und wechselnde Kameraperspektiven entwickelt wurden. Was ist im Bereich des Telekontakts noch alles möglich? Was passiert, wenn wir uns nicht nur damit zufriedengeben, Klassenzimmer und Konferenzräume einfach nur digital nachzubauen, sondern die Frage stellen, was ihnen in der echten Welt noch fehlt und welche Eigenschaften man hinzufügen könnte?

In den diesjährigen Abschlussklassen der großen Start-up-Schmieden wimmelt es nur so vor Unternehmen, die sich neue hybride Kommunikationsformen ausdenken. Dutzende Firmen präsentieren ihre Ideen, und Risikokapitalgeber öffnen bereitwillig ihre Geldbeutel. Wer dereinst eine wirklich gute Antwort auf die Frage hat, wie Nähe trotz Distanz funktionieren kann, wird zur nächsten großen Internetplattform aufsteigen.

Einige der neuen Verhaltens- und Lebensweisen werden bleiben, selbst wenn die Pandemie gestoppt ist. Arbeitnehmer werden auf ihr Recht auf Heimarbeit bestehen, Firmen werden womöglich die Mietverträge für ihre repräsentativen Räumlichkeiten in Innenstadtlage kündigen. Schon jetzt entstehen rund um die einstigen Boom-Regionen im Silicon Valley Trabantensiedlungen, in denen sich die Tech-Angestellten, die gut im Home-Office operieren, die obszönen Immobilienpreise von San Francisco sparen können, ohne an Produktivkraft einzubüßen. "Zoom Towns" haben clevere Soziologen diese Schlafstädte der Gegenwart genannt.

Dauerübertragung als Gegenmittel zur visuellen Ermüdung?

Dauerübertragung als Gegenmittel zur visuellen Ermüdung? Die Start-ups tragen Namen wie Gather, Mmhmm, Rambly, Topia oder Yorb. Und wie immer, wenn es um neue Apps aus dem Silicon Valley geht, ist man nicht sicher, ob da jemand einen cleveren Produktnamen erfunden hat oder doch nur auf der Tastatur ausgerutscht ist. Die möglichen Konzepte sind so divers wie die Probleme, die sie lösen sollen. Manche Plattformen versuchen, einfach noch einen Gang hochzuschalten und bieten einen Always-on-Videofeed zu den Kollegen an. Anstatt sich nur einmal täglich zum Update zusammenzuschalten, müsste man also nur aufsehen und hätte schon den Kollegen im Blick, genauso wie an der Büroinsel. Dauerübertragung als Gegenmittel zur visuellen Ermüdung? Klingt anstrengend. Andere Anbieter legen sich lieber auf sehr spezielle Zielgruppen fest. Die App Together etwa wirkt schon gemütlicher. Sie ist darauf ausgelegt, dass isolierte Großeltern mit ihren Enkelkindern Kontakt halten können und kombiniert deshalb eine Vorlese- und Spielefunktion mit einem Videochat.

Es gibt natürlich noch verzweifeltere Ideen, etwa das elektrische Kissen, das dem Gesprächspartner am anderen Ende des Kanals, nun ja, "umarmt". Einzig und allein die virtuelle Realität kommt in all den Produkt-Pitches nicht vor. Wäre das nicht eigentlich die perfekte Lösung? Tatsächlich die echte durch eine künstliche Welt auszutauschen? Das mangelnde Interesse ist nur im ersten Moment widersprüchlich. In einer Gegenwart, in der man sich ohnehin schon von der Realität entfremdet fühlt, ist das Bedürfnis, eine schwere VR-Brille überzuziehen und damit für noch mehr Abkapselung zu sorgen, eher gering.

Eine der vielversprechendsten Lösungen nennt sich Proximity Chat. Vereinfacht gesagt hat man hier Chaträume, in denen man sich zwischen den Konversationen hin und herbewegen können soll wie auf einer Party. Jeder Nutzer wird von einem Avatar repräsentiert, der frei durch einen virtuellen Raum gesteuert werden kann. Genau wie im echten Leben kann man dann nur die Teilnehmer sehen und hören, deren Icons sich in der Nähe des eigenen befinden. Genauso kann man nicht hören, was andere bereden, deren Avatare sich auf der anderen Seite des Raums befinden. Erst wenn man sich nähert, werden ihre Stimmen lauter und ein Videokästchen erscheint auf dem Bildschirm.

Der Proximity Chat löst damit auch eines der größten Probleme der herkömmlichen Videokonferenzen: Es kann nur eine Person gleichzeitig reden. Es erfordert viel Disziplin der Teilnehmer und einen ausgiebigen Gebrauch des Mute-Buttons, mit dem man sich selbst stumm schaltet. Einer macht die Ansagen, die anderen halten still. Interpassivität statt Interaktivität. Das mag zwar für den Jour fixe gerade noch angehen, spätestens aber, wenn der Videochat einem anderen Zweck als der Arbeit dienen soll, wird es schwierig.

Viele Nutzer, die mit den entsprechenden Apps experimentieren, zeigen sich begeistert. Weil durch die neue Technik auch wieder Dinge wie soziale Flüchtigkeit und Zufälligkeit vermittelt werden können. Weil es in Gesprächen eben nie nur um das eigentliche Thema geht. Sondern auch um die vielen kleinen Botschaften, die in einer Unterhaltung zwischen zwei oder mehreren Menschen sonst noch so ausgetauscht werden. Um das schöne Spiel von Exklusivität und Inklusion, etwa, sich auf einer Party zu zweit abzusondern oder einen Dritten hinzuzuwinken. Genau wie es früher eben einen nicht unbedeutenden Teil des Erlebens von Gesellschaft ausmachte, Menschen spontan auf dem Büroflur oder der Kaffeeküche zu treffen. Wer hätte gedacht, dass wir das einmal vermissen werden.

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