Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch (XXXI):Keine Siege, nur Schmerz

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Am 9. Mai wird es wohl anders laufen, als Putin das plante. Kein Anlass für Erleichterung, im Gegenteil. Im Hinterland geht der Kriegsalltag weiter.

Der ukrainische Präsident Selenskij spricht am 8. Mai in Borodjanka, im Hintergrund zwei zerstörte und ausgebrannte Häuser. Die Ukraine feiert seit 2014 keinen Siegestag mehr, sondern den Tag der Versöhnung und der Erinnerung. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg ist laut dem russischen Führer Wladimir ohnehin nur Russland vorbehalten. Mein Großvater väterlicherseits sprach auch niemals von einem Sieg, er hatte nur eine schwere Beinwunde als Erinnerung an seine Kriegsteilnahme. Mein Großvater mütterlicherseits konnte erst recht nichts erzählen, weil er 1944 irgendwo bei Königsberg (Kaliningrad) gefallen ist. Sieger waren die anderen. Ein Land der permanenten Kriege - seit Iwan dem Schrecklichen, der sich zum Zaren von Russland krönen ließ, ein Land der permanenten Siege, denn als solche wurde der Ausgang einer jeden "militärischen Sonderoperation" ausgegeben.

In diesem Jahr muss auch ein Sieg her, eigentlich war eine Siegesparade auf dem Chreschtschatyk, der Kiewer Hauptstraße, geplant, die russische Armee führte während der Invasion im Februar sogar ihre Paradeuniform mit. Doch statt stolz über die Kiewer Straßen zu marschieren und dabei von dem aus dem Joch des "Kiewer Regimes" befreiten und jubelnden ukrainischen Volk mit Nelken und Tulpen begrüßt zu werden, müssen die "Befreier" nun eine Parade im zerstörten Mariupol inszenieren. Eine kleine umständebedingte Plankorrektur. Die anderen ukrainischen Gebiete werden dafür verstärkt bombardiert und beschossen.

In der Nacht auf den 7. Mai wird in der Region Charkiw das Museum des Philosophen Hryhorij Skoworoda (1722-1794) komplett zerstört. Absolut nachvollziehbar, denn der freidenkende nonkonforme Skoworoda passt überhaupt nicht ins Weltbild des russischen Neoimperialismus, in dem die Unterwürfigkeit und Obrigkeitshörigkeit oberste Gebote sind und das eigenständige Denken generell als eine schädliche Beschäftigung gilt. Im Dorf Bilohoriwka der Luhansker Region wird am 7. Mai eine Bombe auf die Schule abgeworfen, in deren Schutzkeller sich die meisten Dorfbewohner versteckten. Aktuell werden 62 Tote gemeldet. Welche Gefahr von ihnen sowie vom Schulgebäude ausging, konnte durch unabhängige Quellen nicht ermittelt werden. Aber es ist anzunehmen, dass sich die Bedrohung für Russland durch die Ukraine dank diesen (Un)Taten deutlich reduzierte.

Der Krieg verändert das Wesen der Menschen kaum, vielmehr wirkt er wie ein Lackmustest

Das Schreiben dieser sarkastischen Zeilen lenkt mich etwas ab, doch abseits des Schreibtisches muss ich, müssen wir an übliche Dinge des Kriegsalltags im Hinterland denken. Wir haben mehrere Anfragen für Medikamente und Lebensmittel von unseren Bekannten aus anderen Regionen, auch aus Borodjanka, wohin der Transport hoffentlich schon in den nächsten Tagen gehen kann, wir warten nur noch auf eine größere Medikamentenlieferung vom Uniklinikum Halle.

Ein Bekannter von S. und mir ist jetzt Stabsoffizier in der lokalen Verteidigung und muss mit seiner Einheit demnächst in den Osten, sie benötigen einen Anhänger für den Transport. Wir sagen ihm die Teilfinanzierung und die Reparatur des passenden gebrauchten Anhängers zu. Mit dem jetzigen Stabsoffizier W. verbinden uns sehr gute Erfahrungen und Erinnerungen, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Er besaß einen Bus, mit dem er unsere studentischen Gruppen mehrfach nach Deutschland fuhr, im Rahmen verschiedener Projekte. So auch mehrere Male nach Osterholz-Scharmbeck in die Bildungsstätte Bredbeck, einen wunderschönen Ort internationaler Begegnungen und Projekte, an dem sich Studierende aus Tscherniwzi (Czernowitz), aber auch viele aus anderen ukrainischen Regionen, beteiligten. Dabei waren Busfahrten nur ein Freundschaftsdienst für uns, denn ansonsten engagierte sich W. als Abgeordneter im Dorfrat, baute ein Dorfmuseum auf und träumte von einem Müllverarbeitungswerk in seiner Gemeinde.

Seine Pläne müssen nun warten, und wir können nur darauf hoffen, dass ihm nichts Schlimmes zustößt und er sie nach dem Krieg realisieren kann. So wie wir W. kennen, wissen wir, dass es für ihn die einzig richtige Entscheidung war - sich dem Krieg entgegenzustellen und nicht etwa zu versuchen, sich davor zu drücken. Denn Gegenbeispiele gibt es auch genug - vor wenigen Tagen wurde in Tscherniwzi ein Chefarzt eines Krankenhauses festgenommen, der fünf als humanitäre Hilfe übergebene Rettungswagen für den Einsatz in den Kriegsgebieten und vor Ort in der Stadt für eine von ihm geleitete NGO registrieren ließ und bereits eine ordentliche Summe für einen Transport nach Sakarpattja (Transkarpatien) kassieren wollte - mit seinem Bruder als Fahrer. Ein ähnlicher Vorfall wird aus Lwiw gemeldet - ein Unternehmer und ein Journalist sollen humanitäre Hilfsgüter im großen Stil gestohlen haben. Leider nichts Außergewöhnliches. Der Krieg verändert das Wesen der Menschen kaum, vielmehr wirkt er wie ein Lackmustest, sagt man in der Ukraine häufig. Jede, jeder von uns muss heute darauf gefasst sein, dass er oder sie diesen Test einmal bestehen muss.

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