Süddeutsche Zeitung

Friedlicher Protest gegen den Krieg:Künstlerkollektiv spielt russischer Staatsführung einen riesigen Telefonstreich

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Die Aktivisten haben 5000 Nummern von Militärs, Geheimdienstlern und Politikern erbeutet. Klickt man auf einer Website einen Button, startet eine Telefonkonferenz zwischen zwei zufällig ausgewählten Anschlüssen.

Von Jörg Häntzschel

Sollten sich die Geländegewinne der russischen Armee seit Mittwochnachmittag noch weiter verlangsamen, dann ist das vielleicht nicht nur neuen Waffenlieferungen an die Ukraine zuzuschreiben, sondern auch dem wohl ambitioniertesten Telefonstreich, den es je gab: "Wasterussiantime" - verschwende russische Zeit, lautet der Titel. Geht der Plan des Kunstkollektivs "The Obfuscated Dreams of Scheherazade (TODS)" auf, werden es hochrangige russische Militärs, Geheimdienstleute und Politiker schwer haben, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren: "Stell dir vor, du willst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit organisieren, aber dein Telefon hört einfach nicht auf zu klingeln!", heißt es in einer Pressemeldung von TODS. Noch mehr Unruhe wird aber der Umstand verbreiten, dass am anderen Ende der Leitung jeweils ebenfalls ein Mitglied der russischen Führungskaste sein wird.

Die Leute von TODS hatten die Idee bereits am zweiten Kriegstag. Alles begann mit 5000 Telefonnummern, unter anderem von Geheimdienstleuten und Duma-Mitarbeitern, die sie aus mehreren Leaks erhalten hatten. Klickt man nun auf der seit Mittwochmittag freigeschalteten Website wasterussiantime.today einen Button, startet ein "Dialer" eine Art Telefonkonferenz zwischen zwei zufällig ausgewählten Nummern aus dem Leak. Kommt die Verbindung zustande, kann man unbemerkt zuhören, wie die beiden unfreiwilligen Gesprächspartner sich gegenseitig zu erklären versuchen, was gespielt wird. Sie erfahren dabei nichts von der Identität der Person, die den Anruf von der Website gestartet hat. Es gibt auch keine Möglichkeit, zu den Russen zu sprechen.

Legal ist das alles nicht. Doch angesichts des russischen Überfalls halten die Kunstaktivisten ihre "interaktive Performance-Installation" für legitim: "Wir sind militante Pazifisten. Wir wählen gewaltfreie Methoden, um gegen diesen Krieg zu kämpfen. Deshalb haben wir uns für diese zivile, friedliche Intervention entschieden", zitiert das Pressestatement eine TODS-Vertreterin, die sich "Neferneferuaten Myrnyy" nennt. Ziel sei es, Verunsicherung und Paranoia unter den Mitorganisatoren des Kriegs zu säen, so ihr Mitstreiter "Shera" gegenüber der Süddeutschen Zeitung. "Sie werden sich fragen: Wer kennt unsere Telefonnummern? Werden wir abgehört?"

Mit ihrer Aktion, die "für etwas Schönheit auch in dunkelsten Zeiten" sorgen soll, positionieren sich die Initiatoren zwischen den notorischen Polit-Pranks des "Peng!"-Kollektiv" oder des "Zentrums für Politische Schönheit" und dem "Hacktivism" von Gruppen wie Anonymous. Das Kollektiv bestehe aus "Artists, Scientists and Dentists", also Künstlern, Wissenschaftlern und Zahnärzten, blödeln sie.

Doch in Wahrheit ist es den Initiatoren sehr ernst, sie wissen auch genau, mit wem sie es hier aufnehmen. Deshalb kommunizieren sie nur mit größter Vorsicht und verstecken sich hinter Pseudonymen und erfundenen Geschichten. Wochenlang, erzählen sie, haben sie auch daran gearbeitet, ihre Installation gegen Hacker zu isolieren. Ob es funktioniert hat, ob sie den erwarteten Attacken nur Stunden, ein paar Tage oder länger standhalten wird, wagen sie nicht vorherzusagen.

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