Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Michael Titzmann:Jedem seine Bücher

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Im Lesen und im Spott war er den anderen überlegen: Der Literaturwissenschaftler Michael Titzmann ist gestorben.

Von Willi Winkler

Bei Michael Titzmann war, ungewöhnlich für einen Universitätslehrer, tatsächlich etwas fürs Leben zu lernen: "Sie können alles machen, zusammenziehen, heiraten, ein gemeinsames Konto führen, Kinder kriegen, aber stellen Sie niemals Ihre Bücher zusammen!" Titzmann war Leser und kannte einfach alles.

Er hatte in München bei Hugo Kuhn und Walter Müller-Seidel studiert, sich aber bald emanzipiert, weil er als einer der Ersten an der sonst so genügsamen Ludwig-Maximilians-Universität die Franzosen wahrnahm, den Semiotiker Umberto Eco kannte und die Strukturalisten Juri Lotman und Roman Jakobson im Schlaf herbeten konnte. Sein Buch "Strukturale Textanalyse", bei UTB 1977 in Ochsenblutrot erschienen, hatte nur zwei Schönheitsfehler: Es führte den Autor mit dem falschen Vornamen "Manfred" und war unlesbar mit Graphen, Termen und den unvermeidlichen Strukturen durchsetzt.

"Bei den Kollegen würde ich Ihnen das nicht empfehlen"

Seinen Schülerinnen und Schülern, weit verstreut im Land, hat es trotzdem nicht geschadet, sie wissen, was sie an ihm hatten, denn wer sonst konnte ein Referat über Jung-Stillings "Theorie der Geisterkunde" durch eine Tiefenanalyse des Werks von Paul Wühr ergänzen? Dass er die Goethezeit grundsätzlich mit Gz abkürzte, war ein bisschen tempelschänderisch, doch er kannte sich darin aus wie kein anderer, wusste ebenso Bescheid über die Blüte pornografischer Literatur in Frankreich wie über den Einfluss der Josephinischen Reformgesetze auf das Paarungsverhalten im Werk von Friedrich Schlegel und Joseph von Eichendorff. Den auch sonst überschätzten Fortbildungsroman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" dekonstruierte er mit Verweis auf die seinerzeit fashionablen Geheimbund- und Geisterseherbücher wie "Dya-Na-Sore" und "Der Genius". E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck wurden durch sie angeregt und waren damit, ein typischer Titzmann-Satz, "in jedem Falle intelligenter als manche späteren Literaturwissenschaftler, die glaubten, Wilhelm Friedrich von Meyern und Carl Friedrich August Grosse als trivial abtun zu können".

In einer Arbeit über das Venus/Diana-Motiv in Eichendorffs Novelle "Eine Meerfahrt" akzeptierte er die Referenz auf Paul Ankas Song, versah sie aber mit der Warnung: "Bei den Kollegen würde ich Ihnen das nicht empfehlen". Die Kollegen, denen er bei aller Schüchternheit turmhoch überlegen war, verspottete er bei jeder Gelegenheit so gnadenlos, dass er in München keinen Lehrstuhl bekam, sondern an die Reformuniversität Passau berufen wurde, wo immerhin Manfred (der echte!) Pfister lehrte, den er wenigstens halbwegs akzeptieren konnte. Sein Nachwort zu einer Ausgabe von Galileis Brief an Christine von Lothringen (2008) ist der Beginn einer Wissenschaftsgeschichte, die er leider nicht mehr geschrieben hat. Am 1. Februar ist der Leser Michael Titzmann 76-jährig in Passau an Covid-19 gestorben.

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