Süddeutsche Zeitung

Theater:Zwei Elefanten im Raum

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Treffen sich Theatermacher in Sankt Petersburg und verschweigen das Wichtigste: Ein Festival zum Europäischen Theaterpreis ignoriert Russlands Druck auf die Regisseure Kirill Serebrennikow und Milo Rau.

Von Christine Dössel

Auch Wladimir Putin war nach Sankt Petersburg gekommen, und einige unkten, er würde für seinen Konvoi bestimmt die Hauptschlagader seiner Heimatstadt sperren lassen, den Newski-Prospekt, diesen viereinhalb Kilometer langen Konsum- und Prachtboulevard, über den Nikolai Gogol geschrieben hat: "Für diese Stadt bedeutet er alles." Auch das Dom Aktjora, das "Schauspielerhaus", liegt am Newski-Prospekt. Eigentlich ein Restaurant, wurde es für das mehrtägige Treffen rund um den Europäischen Theaterpreis in eine Art Festivalzentrum umfunktioniert. 300 Theaterleute und -kritiker aus aller Welt kamen hier zusammen, um sich auszutauschen und manch eine dröge Insiderkonferenz abzusitzen. Und Theater geguckt wurde natürlich auch.

Allerdings ohne Putin. Der erschien auch nicht zur abschließenden Gala, bei der Waleri Fokin, der mächtige Intendant des Petersburger Alexandrinski-Theaters - ein Putin-naher Großkünstler, der schon vier russische Staatspreise erhalten hat -, in eben diesem Theater mit dem Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde. Mit 15 000 Euro ist er dotiert, früher waren es 60 000. Zu Fokin schickte der Präsident seinen Kulturminister Wladimir Medinskij. Putin selbst nahm an der politisch sehr viel prestige- und gewinnträchtigeren Parallelveranstaltung teil, dem zum siebten Mal in Petersburg abgehaltenen Internationalen Kulturforum der Russischen Föderation - diesmal mit dem Ehrengast Katar.

Das Motto dieser hochrangig besetzten Veranstaltung lautete: "Kultur als strategisches Potenzial des Landes". Das ist eine klare Ansage. Auch eine saudische Delegation war der "Einladung unserer Freunde" gefolgt, darunter Prinz Badr, der erste Kulturminister Saudi-Arabiens - ein Amt, das es überhaupt erst seit diesem Sommer gibt. Der twitterte stolz lächelnd ein Selfie mit Putin. Ja, Kultur schlägt die viel zitierten "Brücken" zwischen Ländern. Kultur ist aber auch ganz knallhart: Politik.

Das war eindrücklich auch beim früher als harmlos erachteten Europäischen Theaterpreis zu erfahren, obwohl und gerade auch weil die - wohlgemerkt: italienischen - Veranstalter versuchten, die Politik fernzuhalten von dem ihnen in Petersburg gewährten Parkett. Einem Parkett, auf dem sie doch nichts weiter als netzwerken, feiern und glänzen wollten. So zu tun "als ob", ist zwar die Kernkompetenz des Theaters, aber so zu tun, als ob nichts wäre, während man ein internationales Theatertreffen in Russland abhält, welches wiederum von just diesem Land finanziert wird, das ist eine eher schlechte Farce. Ungeschoren kommt man da nicht heraus.

"Ich sehe gut gekleidete Menschen", sagte der polnische Regisseur Jan Klata bei der Entgegennahme seines Preises für "Neue theatralische Realitäten" im prächtigen Alexandrinski-Theater, "und ich sehe zwei Elefanten im Raum." Zwar habe er das Gefühl, seine "Zunge stünde unter Hausarrest", aber die Namen der beiden unsichtbaren "Elefanten" nannte er trotzdem: Kirill Serebrennikow und Milo Rau, zwei Künstlerkollegen, die beim Europäischen Theaterpreis nicht dabei sein konnten, der eine, weil er in Moskau unter Hausarrest ist, der andere wegen Problemen mit dem Visum.

Klata, selber Betroffener einer repressiven (Kultur-)Politik - er wurde 2017 von der rechten PiS-Regierung als Intendant des Krakauer Stary-Theaters ersetzt -, war der erste, der das Schweigen brach. Schon in seiner Inszenierung von Henrik Ibsens "Volksfeind", die am Abend zuvor als Gastspiel gezeigt wurde, ließ er den Titelhelden in seiner üblichen Wutrede plötzlich nach den beiden Künstlern fragen. Ob jemand im Publikum wisse, wo sie seien. Eine widerständige kleine Improvisation.

Der Regisseur Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol-Centers, steht bekanntlich seit Sommer letzten Jahres aus fadenscheinigen Gründen unter Hausarrest. Gegen ihn läuft ein dubioser Prozess wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern. Diesen Fall bei einem Theaterbranchentreffen in Putins Russland komplett ausblenden zu wollen - wenn auch in der Meinung, es wüssten ohnehin alle, was Sache ist -, erscheint grotesk. Und feige ist es sowieso. Umso mehr, als der Inhaftierte im vergangenen Jahr selber mit dem Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde, als einer von sechs Regisseuren in der Kategorie "Neue theatralische Realitäten", in der innovative Regiehandschriften gewürdigt werden. Damals war die Veranstaltung in Rom. Serebrennikow konnte nicht teilnehmen, weil er bereits unter Arrest stand. Über seine Situation wurde in Rom kein Sterbenswörtchen verloren. Das sollte in Sankt Petersburg offenbar genauso laufen.

Kein einziges Podium zu ihm war angesetzt, und es gab auch nichts von Serebrennikow zu sehen, obwohl beim Europäischen Theaterpreis in der Reihe "Returns" Arbeiten ehemaliger Preisträger gezeigt werden. In Petersburg waren das der konzeptlastig in einer kalten Baustellen-Gerüstwelt spielende "Hamlet" des russischen Altmeisters Lew Dodin und gleich mehrere symbolistisch-expressive Inszenierungen von Andrej Mogutschy.

Um die Implikationen zu verstehen, muss man einen kleinen Exkurs zur Geschichte dieses Europäischen Theaterpreises machen. Viele meinen ja, er werde von der Europäischen Kommission finanziert und vergeben. Ein Missverständnis, dem auch etliche Preisträger aufliegen. Zwar wurde der Preis 1986 als ein Pilotprojekt der damals von Jacques Delors geleiteten Europäischen Kommission initiiert, mit besonderer Unterstützung von Melina Mercouri und dem damaligen französischen Kulturminister Jack Lang, der noch immer als Präsident des Preises fungiert. Und tatsächlich steht die Unternehmung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments und des Europarates. Aber Geld kommt von der EU schon lange nicht mehr (oder kaum), und sie steht auch nicht in der Verantwortung.

Letztendlich steht und fällt der Europäische Theaterpreis mit seinem Gründer und Generalsekretär, dem Italiener Alessandro Martinez, dem eine Liebe zur Kunst - und vor allem zu großen Künstlern - nicht abzusprechen ist. Beheimatet sind er und seine Preis-Organisation im sizilianischen Catania, tiefstes Mafia-Ursprungsland. Weiter nördlich an der Küste liegt das kultursagenumwobene Taormina, wo die ersten neun Festivalausgaben stattfanden. Veteranen berichten von erlesenen Treffen in paradiesischer Umgebung, wo unumstrittene Großmeister des europäischen Theaters (wie Peter Brook, Giorgio Strehler, Heiner Müller, Robert Wilson) und einige Großmeisterinnen (Ariane Mnouchkine, Pina Bausch) mit dem "Premio Europa per il Teatro", wie er eigentlich heißt, geehrt wurden.

Tempi passati. Von 2002 an ging der Preis auf Wanderschaft, dockte mal in Turin an, mal in Thessaloniki, Breslau, Craiova oder Rom, auch in Sankt Petersburg war er 2011 schon mal - immer da, wo eine Stadt Geld locker macht. Meist geschieht das in Verbindung mit anderen kulturellen Großereignissen, für die es einen Etat gibt, zum Beispiel "Kulturhauptstadt Europa", Jubiläumsfeierlichkeiten oder, wie jetzt in Petersburg, das erwähnte Internationale Kulturforum mit Italien als wichtigem Gastland. Wird kein Geld aufgetrieben, fällt der Europäische Kulturpreis aus, wie schon mehrmals geschehen.

Gut eine Million Euro gab es dieses Jahr aus Russland (hauptsächlich vom Baltic House Theatre Festival und der Stadt Petersburg). Der Preis-General Martinez blickt wie ein geprügelter Hund, wenn er solche Fragen beantworten soll. Auf die Frage nach Serebrennikow deutet er an, es würden hinter den Kulissen sehr viele Strippen gezogen.

Bei seiner weichgespülten Abschlussrede im Alexandrinski sprach Martinez viel vom "Dialog zwischen Menschen und Kulturen", von Freiheit und Toleranz, aber deutlich wurde er nicht. Das ist die Crux bei solchen Abhängigkeiten - wer greift schon seinen Geld- und Gastgeber an? Wer zahlt, kann sich auch einen Fokin als Preisträger wünschen. Seine Taormina-Unschuld hat der Europäische Theaterpreis verloren. Die Zeiten sind härter geworden, auch in der (Preis-)Kultur.

Dass in diesem Jahr schon wieder ein Regisseur seinen Preis in der Innovations-Kategorie nicht entgegennehmen konnte, ist bezeichnend für die verschärfte Lage. Der Schweizer Milo Rau bekam kein Visum - beziehungsweise er bekam es in letzter Minute doch, nur war es für eine Anreise zu spät. Seit seinem Film "Die Moskauer Prozesse" von 2013/14, einem inszenierten Schauprozess gegen Putins Regime, aufgehängt an drei Strafverfahren gegen Künstlerinnen wie Pussy Riot, kann Rau nicht mehr einreisen. "Wobei niemals offiziell bekannt gegeben wurde, dass ich auf der schwarzen Liste stehe", sagt er der SZ. "Irgendwie klappt es einfach nie. Sie finden immer irgendwelche Verfahrensfehler."

Auch darüber von den Veranstaltern kein Wort. Das geplante Gespräch mit Rau im Dom Aktjora fand einfach nicht statt, und sein Film "Das Kongo Tribunal" wurde ohne Anmoderation abgespielt. Rau, dem dies alles aus der Ferne zugetragen wurde, sah sich genötigt, ein Statement zu veröffentlichen, welches sich über die sozialen Medien auch in der russischen Theaterszene verbreitete. Darin fragt er: "Wie können wir die Kraft und die Freiheit des Theaters, wie können wir uns selbst und den europäischen Austausch feiern, gleichzeitig aber darüber schweigen, dass einer der letztjährigen Preisträger einem Schauprozess ausgeliefert ist?"

Dass dieses Statement im Alexandrinski-Theater öffentlich verlesen werden würde (von dem französischen Kritiker Georges Banu), hatte man schon nicht mehr geglaubt. Aber am Ende wurde die Preisverleihung doch noch zu einer Solidaritätsbekundung für Serebrennikow. Der Schauspieler und Regisseur Tiago Rodrigues aus Lissabon, auch er ausgezeichnet mit einem Innovationspreis, widmete bei seiner Dankesrede Shakespeares 30. Sonett dem russischen Kollegen. Er trug das Gedicht auswendig auf Russisch vor, so wie in seiner geistreich poetischen Performance "By Heart". Und Lew Dodin schwang sich bei seiner Preisübergabe an Fokin spontan zu einer Stellungnahme auf: Russlands Theaterschaffende stünden in seltener Einigkeit hinter Serebrennikow.

Die opulente Inszenierung von Fokin, die im Anschluss zu sehen war, hat tatsächlich einen Preis verdient, einen für museale Theaterrealitäten: "Masquerade. Remembrance of the Future" ist eine Neubelebung der legendären "Masquerade"-Inszenierung, die der Avantgardist Wsjewold E. Meyerhold im Februar 1917 an eben diesem Theater herausbrachte. Die rekonstruierten Vorhänge und Commedia-dell'arte-Kostüme des Künstlers Alexander Golowin sind ein Fest fürs Auge. Auch wenn einem als nichtrussischen Gegenwartsmenschen die viel gerühmten Mysterien in Lermotows Text verschlossen bleiben, hat die Aufführung einen fremden Zauber. Sie endet mit drei Schüssen aus dem Orchestergraben. Es könnten Warnschüsse für die Zukunft sein.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2018
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